„Unsere Atheisten sind fromme Leute“ (Der Einzige, S. 203). „[S]elbst diejenigen Sittlichen, welche den persönlichen Gott leugnen, behalten ja am Guten, am Wahren, an der Tugend ihren Gott und ihre Göttin“ (Parerga, S. 131f). Die Aufklärung ist an ihrer jämmerlichen Inkonsequenz gescheitert. Auf die knappste Formel gebracht: man hat Gott beseitigt, aber die Menschen desto mehr mit jenen „Prädikaten“ belastet, die vorher Gott zugeschrieben wurden. Deshalb konstatiert Stirner sogar eher eine Verschlechterung als eine Verbesserung: habe man zuvor die Massen zur Religion abgerichtet, sollen sie sich nun infolge der vermeintlichen Aufklärung sogar mit „allem Menschlichen“ befassen. Auf diese Weise werde die „Dressur“ der Menschen immer allgemeiner und umfassender (Der Einzige, S. 365). Freudismus! Marxismus!
Stirners zwei große kontemporäre Gegenspieler Feuerbach und Marx waren auch die Gegenspieler Reichs. Freuds „Atheismus“ war nämlich derjenige Feuerbachs: sei ein Mensch, „die Kultur geht vor“, d.h. die Religion ist zwar eine Illusion, aber um so mehr hat die Sittlichkeit die Grundlage des gesellschaftlichen Lebens zu sein (Der Einzige, S. 52).
Dieses normative Zurechtstutzen des Einzelnen ist der Kern des „Atheismus“ von Feuerbach, der jeweils Marx und Freud entscheidend beeinflußt hat. Ein „Atheismus“, bei dem, um nochmals mit Freud zu reden, die Kultur stets vorgeht. Um sie zu retten haben Marx und Freud die kulturfernsten Bereiche unserer materiellen Existenz und sogar unsere „polymorph-perversen Triebe“ ins Feld geführt, damit ja nicht an den sittlichen Grundlagen gerührt wird: wir sollen auf das materialistische „Es“ schauen, es bemeistern lernen – und das idealistische „Über-Ich“ unbeachtet lassen. Entsprechend wirft Marx Stirner vor, daß dieser obskurantistischerweise „wirklich an die Herrschaft des abstrakten Gedanken, der Ideologie in der heutigen Welt (glaubt), er glaubt, in seinem Kampfe gegen die ‚Prädikate‘, die Begriffe, nicht mehr eine Illusion, sondern die wirklichen Herrschermächte der Welt anzugreifen“. Stirner vernachlässige, schreibt Marx, die wirklichen, materialistischen Lebensgrundlagen (nämlich die Notwendigkeit zu produzieren) und verkleistere dergestalt die sich daraus ergebenden Herrschaftsverhältnisse (Marx: Die deutsche Ideologie, In: FRÜHE SCHRIFTEN, Zweiter Band, Darmstadt 1971, S. 276).
Das ist die gleiche Litanei, die alle „materialistischen“ Linken bis zum heutigen Tage gegen Reich angestimmt haben. Ganz ähnlich sieht es bei den Freudisten aus, die Reich eine Verkennung der komplizierten Triebstruktur des Menschen vorhalten. (Freud sogar ausdrücklich gegenüber ausgerechnet – Lou Salome!) Aber man darf sich nicht durch die ausgewogen „realistische“, schmutzig „materialistische“ Hülle täuschen lassen: es geht Marx, Freud und ihren Anhängern darum, daß die „Prädikate Gottes“ (Feuerbach) unberührt bleiben. Es geht diesen vermeintlichen „Aufklärern“ darum, daß eben „die wirklichen Herrschermächte der Welt“ unangetastet bleiben. Es geht ihnen um die Sittlichkeit.
Damit führen sie auf geniale (nämlich bis heute undurchschaute) Weise einen „Klassenkampf von oben“ fort, wie ihn vor ihnen die Priester, Pfaffen und Philosophen gefochten haben. Jedenfalls spricht Stirner von einem „Klassenkonflikt“ zwischen den „Gebildeten“ und den „Ungebildeten“ (vgl. Parerga, S. 77-79). Die einen stellen irgendwelche geistigen Prinzipien auf, für die sie unterwürfigen Respekt einfordern. (Man denke an die Marxisten und Freudisten!) Die anderen, stehen diesen verqueren Gedanken zunächst gleichgültig gegenüber, können sich aber nicht gegen sie erwehren. „Hierarchie ist Gedankenherrschaft, Herrschaft des Geistes!“ Wir werden von jenen unterdrückt, die sich auf heilige Gedanken stützen. Dieser Konflikt setzt sich bis ins Innenleben fort, „denn kein Gebildeter ist so gebildet, daß er nicht auch an den Dingen Freude fände, mithin ungebildet wäre, und kein Ungebildeter ist ganz ohne Gedanken“ (Der Einzige, S. 79f).
Es ist die Hierarchie von „menschlichem“ (idealem) Leben und „bürgerlichem“ (egoistischen) Leben. Ganz oben steht die heilige Nation und der Staat, darunter das profane bürgerliche Leben (Der Einzige, S. 107f). Das wiederholt sich dann Stufenweise von den gebildeten Bürgern und dem ungebildeten „Pöbel“ bis hinab zum Familienleben. Über die Dressur der Kinder in der Familie setzt es sich im Inneren der Menschen fort: das Gewissen, d.h. sich des „Heiligen“ gewahr sein und entsprechend die „Naturtriebe“ auszuspionieren („innere Polizei“ gegen „innerer Pöbel“) (Der Einzige, S. 97).
Als die „Dressur“ noch nicht so weit fortgeschritten war, waren die sittlichen Instanzen noch Personen (die Eltern, der „Landesvater“, etc.) und entsprechende Wahngebilde (etwa „Gott“), denen man persönlich Loyalität schuldete, doch im Unterschied zum Konservativen läßt sich der fortschrittliche Liberale nichts mehr befehlen – er gehorcht nur noch unpersönlichen Gesetzen (Der Einzige, S. 118f). Dieser „Fortschritt“ beruht auf seiner strukturellen Rebellion gegen persönliche Autorität – um sich desto vorbehaltloser einem „unpersönlichen Herrscher“ zu unterwerfen (Der Einzige, S. 119).
Genauso steht es mit der Frage nach persönlichem Besitz: der Sozialist will nicht bloß die rechtlichen, sondern auch die materiellen Unterschiede aufheben, was nichts anderes bedeutet, als daß nicht nur niemand „selbstherrlich“ befehlen soll, sondern auch keiner etwas haben soll, an dem er seine Eigenheit festmachen könnte, vielmehr sollen alle am unpersönlichen Allgemeineigentum teilhaben. Auf diese Weise wird aus der Gesellschaft selbst ein „höchstes Wesen“, dem wir alles schuldig sind (Der Einzige, S. 135). Letztendlich geht es darum, wirklich alle persönlichen Eigenschaften, alle Traditionen von sich zu streifen und nichts als ein Mensch zu sein (Der Einzige, S. 141). So verschwindet schließlich der egoistische und unverwechselbare „Eigene“ vollständig und geht im Menschen auf (Der Einzige, S. 150f). Letztendlich erweist sich die liberale Flucht vor Autorität, Besitz und Tradition (also die Flucht vor dem Vater) als Flucht vor sich selbst – und als vervollkommnete Unterwerfung. „[W]er sich selbst ganz besitzt, wer in das Heiligtum seines eigenen Wesens eingedrungen ist, wer bei sich ist, der ist beim Vater“ (Parerga, S. 42).
Der aus dieser Rebellion entstammende „Atheismus“ tut kaum mehr als den „Gott des Einzelnen“ durch den „Gott Aller“ zu ersetzen (Der Einzige, S. 158). Wird nämlich der Eigenwille eingeschränkt, sucht er Zuflucht im Eigentum, wird dieses weggenommen, sichert es sich in der Eigenheit die Fortdauer. Deshalb muß schließlich auch jede individuelle Meinung aufgehoben werden, denn mit meiner unvernünftigen Meinung, meinem unvernünftigen „Glauben“, bleibt auch mein Gott bestehen. Er muß ersetzt werden durch einen „allgemeinen menschlichen Glauben“, einen „Vernunftglauben“ (Der Einzige, S. 141). Religion wird zum Kultus der Gesellschaft. „Somit hat man allein dann Aussicht, die Religion bis auf den Grund zu tilgen, wenn man die Gesellschaft und alles, was aus diesem Prinzipe fließt, antiquiert“ (Der Einzige, S. 347). Das macht den „Atheismus“ der Kommunisten und Psychoanalytiker („die Kultur [= die Gesellschaft] geht vor“] zu einer Absurdität. In jedem Teil hier Laskas Stirner-Buch!



















