Posts Tagged ‘Individuen’

Reflektionen über Max Stirner von konservativer Warte (Teil 40)

5. Januar 2023

[Diese Reihe soll zur Auseinandersetzung mit Bernd A. Laskas LSR-Projekt animieren.]

Der Marxismus ist aus Marx‘ „Widerlegung“ von Stirners Anthropologie hervorgegangen. Siehe Marx‘ Die deutsche Ideologie. Bei Stirner dreht sich alles um die „inneren Hierarchien“, d.h. die Verinnerlichung der gesellschaftlichen Ideologie, also das, was Freud „Über-Ich“ und Reich „Panzerung“ genannt hat. Diese Dichotomie von (Eigen-) Natur und Gesellschaft wurde von Marx ersetzt durch die von materiellem Unterbau und ideellem Überbau, d.h. deine Eigenheit ist (ideelle) Illusion bzw. widersetzt sich dem unaufhaltsamen (materiellen) Fortschritt.

Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre vermischt der Pseudo-Marxist Reich diese beiden Sichtweisen, indem er frägt auf welche Weise die gesellschaftliche Ideologie auf das Individuum einwirkt. Die Marxsche Gesellschaftslehre mußte, so Reich, diese Frage als außerhalb ihres Bereichs liegend offenlassen, die Psychoanalyse hingegen kann sie beantworten: in der Familie bekommt das Kind ein Über-Ich verpaßt. Reich beschrieb die Schere zwischen „progressivem“ Unterbau (Ökonomie) und „regressivem“ Überbau (Ideologie). Beispielsweise ist ein Arbeiter in moderne Zusammenhänge eingebunden, doch sein Bewußtsein ist immer noch von der bäuerlichen Herkunft seiner Familie geprägt.

Gewisserweise kann man vom Gegensatz zwischen Genealogie und Entwicklung sprechen. Die Generationen meiner Vorfahren werden immer weniger, sozusagen „spitzen sich zu“ (16 Ururgroßeltern, 8 Urgroßeltern, 4 Großeltern, 2 Eltern), während ich selbst Ursprung einer sich immer weiter auffächernden Entwicklung sein kann. Das Gewissen bzw. Über-Ich, das ganze kulturelle Gepäck, ist sozusagen „überdeterminiert“, während mir selbst praktisch unendlich viele Optionen offenstehen.

Meines Dafürhaltens drückt das Stirner wie folgt aus:

Kommt es darauf an, sich zu verständigen und mitzuteilen, so kann Ich (…) nur von den menschlichen Mitteln Gebrauch machen, die Mir, weil Ich zugleich Mensch bin, zu Gebote stehen. Und wirklich habe Ich nur als Mensch Gedanken, als Ich bin Ich zugleich gedankenlos. Wer einen Gedanken nicht los werden kann, der ist soweit nur Mensch, ist ein Knecht der Sprache, dieser Menschensatzung, dieses Schatzes von menschlichen Gedanken. Die Sprache oder „das Wort“ tyrannisiert Uns am ärgsten, weil sie ein ganzes Heer von fixen Ideen gegen uns aufführt. Beobachte Dich einmal jetzt eben bei deinem Nachdenken, und Du wirst finden, wie Du nur dadurch weiter kommst, daß Du jeden Augenblick gedanken- und sprachlos wirst. Du bist nicht etwa bloß im Schlafe, sondern selbst im tiefsten Nachdenken gedanken- und sprachlos, ja dann gerade am meisten. Und nur durch diese Gedankenlosigkeit, diese verkannte „Gedankenfreiheit“ oder Freiheit vom Gedanken bist Du dein eigen. Erst von ihr aus gelangst Du dazu, die Sprache als dein Eigentum zu verbrauchen. (Der Einzige und sein Eigentum, reclam, S. 388)

Wenn man sich meine obige Skizze anschaut: im Fokalpunkt bricht sozusagen die („gedanken- und sprachlose“) Biologie ein und die Karten werden neu gemischt. Das ist der ganze Sinn der Reichschen „sexualökonomischen Lebensforschung“.

Man kann die obige Abbildung aber auch anders interpretieren, mehr „Marxistisch“: Affektiv („plebejisch“) sagt das Menschentier „ich“, doch dieses „Ich“ wird von einem Chor gesungen: den unendlich vielen Zellen, Organen, Antrieben, physiologischen Vorgängen, etc. „Ich habe mein Sache auf Nichts gestellt“, verweist im Sinne des jüdischen Altertums auf das absolute „Chaos“ unzähliger Strebungen („Tohuwabohu“). Tatsächlich fließen im retikulären Aktvierungssystem Myriaden Impulse zusammen, um so unser Bewußtsein zu bilden, ungefähr so wie in der Abbildung dargestellt.

Interessanterweise kann man die Geschichte der Arbeitsdemokratie ähnlich betrachten: Warum spreche ich Sie im Plural an („sie“)? Soweit ich mich an germanistische Aussagen erinnere, wurde das erst am Ausgang des 18. Jahrhunderts wirklich Usus. Vorher wurde weitgehend „geduzt“. Nur die Untertanen sprachen den Herrscher im Plural mit „Sie“ an, weil der ja nie „ich“, sondern immer nur „Wir“ sagte (Pluralis majestates). Das „Sie“ ist dann im bürgerlichen Zeitalter langsam zu einer allgemeinen Höflichkeitsform geworden. (Im Englischen ist das entgegen dem ersten Anschein nicht anders, denn „you“ steht ursprünglich für das Plural „ihr“!)

In der einfachen Ökonomie des Mittelalters waren die Menschen noch „Individuen“, während mit der wachsenden Arbeitsteilung der Einzelne immer mehr in ein Netz von Beziehungen eingebunden war. Schaute er „zurück“, was andere alles zuarbeiten mußten, damit er ein Produkt produzieren konnte, war es, als blicke er auf eine „Genealogie“ zurück. Entsprechend wurde auch aus einfachen Menschen ein „wir“, das mit „Sie“ angeredet werden muß. Wir tendieren dazu „Penner“ und Pensionäre zu duzen, während Leute, die voll im Arbeitsleben stehen, die ganze Gesellschaft vertreten: wir, ihr, „Sie“.

Reflektionen über Max Stirner von konservativer Warte (Teil 12)

3. August 2022

[Diese Reihe soll zur Auseinandersetzung mit Bernd A. Laskas LSR-Projekt animieren.]

Gesellschaften sind keine Ansammlungen von Individuen, sondern Individuen sind „Destillate“ von Gesellschaften. Außerhalb der Gesellschaft können wir weder physisch noch psychisch überleben. Das sieht man etwa daran, daß, wenn wir uns auf uns selbst zurückziehen, um „In-Dividuen“ zu werden, wir uns psychisch aufteilen, d.h. mit Selbstgesprächen anfangen und schließlich dem Irrsinn verfallen, weil unser Gehirn eine „Ersatzgesellschaft“ in unserem Inneren erzeugt. Das bedeutet, daß das Individuum durch und durch und durch „gesellschaftlich“ ist, einfach weil das Bewußtsein an sich und von seinem Inhalt her (Sprache) ein gesellschaftliches Phänomen ist, kein individuelles. Der Rest am „Individuum“ ist Natur.

Wenn sich ein Individuum gegen seine Gesellschaft „empört“, dann deshalb, weil das Individuum nicht nur ein „Destillat der Gesellschaft“, sondern auch ein Naturwesen ist. Imgrunde empört sich also nicht das Individuum, sondern die Natur bricht in die Kultur ein. Was solange geschieht bis Natur und Gesellschaft harmonieren. Das Individuum ist nur ein bloßes Schlachtfeld „höherer“ Mächte. Die Mystiker haben auf ihre verquere Weise also gar nicht so unrecht.

Das irrationale Über-Ich steht für ein Mehr. Es sind nicht nur „fremde Stimmen“, die dem Kind präkognitiv eingetrichtert wurden: es ist auch das, was den gepanzerten Organismus noch überhaupt irgendwie zusammenhält (eine geordnete und deshalb „rationale“ Panzerung) und es steht für „Gott“. Und zwar nicht nur für den „Gott“=Über-Ich, den der frühe Reich ausmerzen wollte (Kirche als Hauptfeind der Sexualökonomie), sondern für den gepanzerten Menschen ist es gleichzeitig auch eine Verbindung zu jenem „Gott“ auf den Reich stieß, als er den Mystizismus ernstnahm: die entstellte Wahrnehmung der Kernimpulse, die vom Panzer eingeschlossen werden. Und schließlich hat das irrationale Über-Ich eine gesellschaftliche Funktion: es sorgt dafür, daß die Menschen „selbstgesteuert“ funktionieren können. Und hier sind wieder zwei Aspekte zu unterscheiden: Es ist der „Polizist im Kopf“, der es uns erspart, hinter jeden gepanzerten Menschen einen Polizisten zu stellen, um dessen asoziales Verhalten zu kontrollieren. Das irrationale Über-Ich ist gleichzeitig aber auch eine beständige Erinnerung an rationales, „arbeitsdemokratisches“, „genitales“, selbstverantwortliches Verhalten aus dem Kern heraus.

Praktisch sieht das so aus, das über-ich-gesteuerte Menschen verhältnismäßig „autonom“ leben können, während „Anarchisten“ von außen gesteuert werden müssen (und in ihrer reaktiven Rebellion auf verquere Weise auch außengesteuert sind…). Man betrachte etwa die Entwicklung der jüdisch-christlichen-islamischen Religion aus den alten orientalischen Religionen. Imgrunde geht es da immer um ein und dieselbe Geschichte: Kulturheroen/Götter/Gott rettet die geordnete negentropische Welt von den entropischen Chaosmächten. Darum dreht sich unsere Kultur seit 6000 Jahren. Negentropische Ordnung gegen entropisches Chaos. Law and Order gegen die Gesetzlosigkeit. Die Hoffnung, es doch irgendwie hinzukriegen, gegen das anarchistische Gesindel.

David Holbrook, M.D.: LUSTANGST: HANDELN MENSCHEN TATSÄCHLICH IMMER IN EINER WEISE, DIE MIT IHREM EIGENINTERESSE ÜBEREINSTIMMT?

25. März 2021

DAVID HOLBROOK, M.D.:

Lustangst: Handeln Menschen tatsächlich immer in einer Weise, die mit ihrem Eigeninteresse übereinstimmt

Arbeitsdemokratie, Emotionelle Pest und Sozialismus (Teil 25)

16. Februar 2021

Wer bin ich? Die Frage stellen vor allem Schizophrene, die wegen ihres diffusen Energiefeldes keine eigene Identität haben. Die Frage nach der Identität ist schlichtweg eine Frage nach der Grenze. Wo höre ich auf und wo fangen die anderen bzw. wo fängt meine Umwelt an? Auf diese Weise habe ich eine Identität und kann für meine Interessen einstehen. Das gilt für Individuen, unterschiedlichste Vereinigungen und geschäftliche Unternehmungen (man denke nur an das Stichwort „corporate identity“) und natürlich für Nationen. Wobei Nationen eine Sonderrolle einnehmen, denn die sind definiert als die größtmögliche Gruppe, zu der ich als Individuum noch eine emotionale Beziehung aufbauen kann. Es sind Menschen, mit denen nicht nur ich, sondern auch meine Vor- und Nachfahren schicksalhaft verbunden sind und mit denen ich den gleiche Sprach- und Kulturraum teile.

Das Gegenteil des „endgrenzten“ Schizophrenen ist der Neurotiker, der in jeder Hinsicht „begrenzt“ ist. Er ist es, den Reich in seiner Rede an den kleinen Mann anspricht. Früher, im autoritären Zeitalter, war er der typische Nationalist und Rassist, dessen ganzes Leben darum kreiste, sich von den Fremden und denen „da unten“ abzugrenzen. Über Jahrhunderte war er der Fluch der Menschheit, weshalb man auch Verständnis für den Haß auf Donald Trump und dessen nationalistische Botschaft haben muß. Ebenso ist verständlich, daß Reich zu seiner Zeit alles daran setzte, gegen diese Beschränktheit anzuschreiben, wobei seine Argumentation stets um den Verweis auf das gemeinsame Funktionsprinzip kreiste. Angesichts der „Amöbe im Menschen“ bzw. des „Wurms im Menschen“ war der Verweis auf landsmännische oder gar „rassische“ Unterschiede geradezu irrwitzig.

Das änderte sich alles drastisch mit dem Aufkommen der antiautoritären Gesellschaft kurze Zeit nach Reichs Tod, die vor allem durch zweierlei gekennzeichnet ist: 1) beim Individuum die Verlagerung von der muskulären („neurotischen“) Panzerung zu einer okularen („schizophrenen“) Panzerung; und 2) die komplette „Entgrenzung“ auf allen nur denkbaren Ebenen von der „Globalisierung“ bis hin zum Gendermainstreaming. Menschen, die ohnehin „gaga“ sind, wird so alle Möglichkeit der Identifikation genommen. Sie wissen ja nicht mal mehr, ob sie Männlein oder Weiblein sind!

nachrichtenbrief133

24. September 2019