Durch Freundschaften, Handelsaustausch und andere Formen des lustvollen „Verkehrs“ löst sich die ursprüngliche Gesellschaft auf und es entsteht der Verein. Betrachtet man, so Stirner, das alltägliche Leben, hat man hunderte von solchen teils schnell vorübergehenden, teils dauernden egoistischen Vereinen vor sich: Kinder die sich zum Spielen zusammenfinden, Freundschaften, Liebespaare, etc. (Parerga, S. 204). Im Verein findet man zusammen, um einander zu genießen, wobei keiner der Partner „zu kurz kommt“ (Parerga, S. 204). Aus diesen Vereinen kann wiederum aufgrund der Charakter-Deformationen ihrer Mitglieder eine (sekundäre) Gesellschaft hervorgehen: die berüchtigte „Vereinsmeierei“, Gilden, Parteien, der Staat und andere „heilige“ Gebilde. Sie sind abgestorbene Vereine, in denen das unaufhörliche Sich-Vereinigen zum Stillstand gekommen ist (Der Einzige, S. 342). Reich hat beschrieben, wie aus Lustangst die Menschen aus den „Vereinen“ in eine Ersatzfamilie flüchten, in der das Heimatland die Mutter verkörpert und der „Führer“ den strengen, gerechten und gütigen Vater. (Darauf beruht heute der Antikapitalismus der roten und schwarzen Faschisten.)
Mit der Unterdrückung des Vereins, also des freien „bioenergetischen und arbeitsdemokratischen“ Austausches zwischen den Menschen, wird auch die primäre Gesellschaft zerstört. Das sieht man z.B. daran, daß die Eltern der öffentlichen Schule immer größere Teile der Erziehungsaufgabe zuschanzen. Mit dem generellen Zerfall der Gesellschaft bricht auch die ursprüngliche, die organisch gewachsene Gesellschaft, also die Familie, sogar die Mutter-Kind-Bindung, und damit der unverzichtbare „Mutterboden“ des Einzigen und des Vereins, zunehmend weg. Es ist wie Bodenerosion: die Wüste wächst. Stirner konnte noch wie selbstverständlich aus dem „Nichts“, d.h. der „schaffenden Gedankenlosigkeit“ (Der Einzige, S. 380), der Körperlichkeit, der „Natur“ schöpfen, während die gegenwärtig heranwachsende Generation buchstäblich ins „Nichts“ fällt, in ein inneres Vakuum. Daher die Sucht nach Unterhaltung und Ablenkung – die innere Leere soll gefüllt werden. Stirner konnte noch davon ausgehen, daß es nur Vorteile hat, wenn sich die Kinder von ihren Eltern loskoppeln und in freien Austausch mit ihren Altersgenossen treten (Der Einzige, S. 342). Heute ist es so, daß der Einfluß der Altersgenossen derartig negativ ist, daß verantwortungsvolle Eltern sich weigern müßten, ihre Kinder auf öffentliche Schulen zu schicken. Daß die Grundlage des Vereins zunehmend verschwindet, insbesondere dadurch, daß Frauen „sich selbst verwirklichen wollen“, ist der ultimative Verrat an der Aufklärung.
Neben den angeborenen Instinkten fehlt ihnen auch das erworbene Wissen, das sich quasi in einen „Trieb“ verwandelt hat. Stirner spricht bei diesem „Trieb“ von „bewußtlosem Wissen“ und „Instinkt des Geistes“ und nennt etwa das Taktgefühl (Parerga, S. 93). Zum Beispiel ist unser Organismus seit wir uns von Insektenfressern zu Halbaffen entwickelt haben, auf „Süßigkeiten“ programmiert: süße Früchte, die praktisch nie im Überfluß vorhanden sind. Heute werden wir damit bombardiert. Da ist Selbstzucht gefragt und es gilt Stirners Diktum:
Ich nehme mit Dank auf, was die Jahrhunderte der Bildung Mir erworben haben; nichts davon will Ich wegwerfen und aufgeben: Ich habe nicht umsonst gelebt. Die Erfahrung, daß Ich Gewalt über meine Natur habe und nicht der Sklave meiner Begierden zu sein brauche, soll Mir nicht verlorengehen; die Erfahrung, daß Ich durch Bildungsmittel die Welt bezwingen kann, ist zu teuer erkauft, als daß Ich sie vergessen könnte. Aber Ich will noch mehr. (Der Einzige, S. 374)
Auch spricht Stirner nicht dem sozialen Chaos das Wort. Selbstverständlich ist es den Menschen unbenommen sich zu wehren und „asoziales“ Verhalten zu bestrafen. „Das ist keine Sündenstrafe, keine Strafe für ein Verbrechen.“ Es geht dabei nicht um die Verletzung irgendwelcher „heiligen Gesetze“, sondern um den freien Entschluß des Einzelnen die Folgen etwaiger Taten tragen zu wollen oder nicht (Der Einzige, S. 263f). Es geht darum, daß sich die Geschädigten an jenen gütlich tun, die ihnen Gewalt angetan haben, nicht darum, daß irgendein „heiliges Recht“ befriedigt wird (Der Einzige, S. 266). Oder mit anderen Worten: die Gruppen von Menschen geben sich Regeln, die das Verbrechen zu einer Dummheit machen – oder die Regeln setzen sich so im Einzelnen fest, daß das Verbrechen zu einer Sünde wird.
Jene Hingebung an das Heilige bewirkt denn auch, daß man, ohne lebendigen, eigenen Anteil, die Übeltäter nur in die Hände der Polizei und Gerichte liefert: ein teilnahmsloses Überantworten an die Obrigkeit, „die ja das Heilige aufs Beste verwalten wird“. Das Volk ist ganz toll darauf, gegen Alles die Polizei zu hetzen, was ihm unsittlich, oft nur unanständig zu sein scheint, und diese Volkswut für das Sittliche beschützt mehr das Polizeiinstitut, als die Regierung es nur irgend schützen könnte. (Der Einzige, S. 267)
Die seit Kindertagen zurechtgestutzten „unterdrückten Massen“ betreiben ein universelles Mobbing gegen den Einzelnen, „den seine Kühnheit, sein Wille, seine Rücksichtslosigkeit und Furchtlosigkeit leitet (…) Das Volk – ihr gutherzigen Leute, denkt Wunder, was Ihr an ihm habt – das Volk steckt durch und durch voll Polizeigesinnung. – Nur wer sein Ich verleugnet, wer ‘Selbstverleugnung’ übt, ist dem Volke angenehm“ (Der Einzige, S. 219f).





















