Einige Ratschläge zum Leben und Überleben
Sei wer du bist
Liebe und Grausamkeit
Über andere urteilen
Einige Ratschläge zum Leben und Überleben
Sei wer du bist
Liebe und Grausamkeit
Über andere urteilen
Über Freundlichkeit, den Geist, die Seele und das Christentum: Gedanken nach dem Anschauen von David Leans GEHEIMNISVOLLE ERBSCHAFT
Die Pest der politischen Identifikation
Sei ein Liebender
[Diese Reihe soll zur Auseinandersetzung mit Bernd A. Laskas LSR-Projekt animieren.]
Bernd A. Laskas LSR-Projekt (www.lsr-projekt.de) versucht dingfestzumachen, warum sowohl die Reaktionäre als auch, was noch wichtiger ist, die Progressiven drei Geistesgrößen zu „Parias des Denkens“ machten: LaMettrie, Max Stirner und Reich. Ihre Gegenspieler waren jeweils Diderot, Marx und Freud. Laska versucht, die Differentia specifica zu identifizieren. Diese drei Parias waren die einzigen, die konsequent gegen das Über-Ich (die verinnerlichten lebensfeindlichen gesellschaftlichen Normen) und für die Kinder der Zukunft eintraten. Das Antisoziale, das sowohl von der Reaktion als auch den vermeidlichen Progressiven mit moralischem Furor bekämpft wird, wird eben erst durch die „moralische Erziehung“ der Kinder hervorgerufen! Diese grundsätzliche Einigkeit von „L und S und R“, ist viel bedeutsamer als ihre Unterschiede. Das gleiche gilt für die Unterschiede etwa zwischen Marx und Freud. Das bedeutet auch, daß keiner der genannten den folgenden direkt beeinflußt haben, mal abgesehen von Reichs Lektüre von Stirners Der Einzige und sein Eigentum.
Reich „gehörte einfach nicht dazu“, weder zu den Psychoanalytikern noch zu den Marxisten, und der „Freudo-Marxismus“ verkörpert das genaue Gegenteil von Reichs Kernbotschaft. (Man betrachte nur den heutigen Triumphzug des „Kulturbolschewismus“!) Und tatsächlich wurde er nicht nur als Psychoanalytiker von Freud selbst abgelehnt, sondern auch als Marxist von allen Fraktionen des Marxismus: den Kommunisten, den Sozialdemokraten (siehe Bernfelds „Gegenartikel“: „Reich ist kein Marxist!“) und den Marxistischen Talmudisten, beispielsweise Erich Fromm: „Reich ist kein Marxist!“
Und was ist mit dem Orgon. Gibt es da nicht jede Menge naturphilosophische Vorgänger? Nun, die Entdeckung des Orgons ist etwas grundsätzlich anderes als die zahllosen Spekulationen über einen „Urgrund“ und ähnlichem! Viel wichtiger sind zwei andere Vordenker Reichs, die mit ihrer grundsätzlichen Herangehensweise die Entdeckung des Orgons vorbereiteten:
Reich waren seine beiden Vorstreiter LaMettrie und Stirner durch F.A. Langes Geschichte des Materialismus ein Begriff. Was lernte Reich von dem Neu-Kantianer Lange? Langes Buch ist eine Kritik des Materialismus, insbesondere von dessen mechanistischer Betrachtungsweise des biologischen und „geistigen“ Lebens. Lange kritisierte den atomistischen Ansatz: mit Teilchen im leeren Raum kann man Leben und insbesondere das „innere Erleben“ (Seele, Bewußtsein) nicht erklären. Es muß „etwas“ geben, das die Leere zwischen den Atomen aufhebt, ein Kontinuum herstellt. Wir können beispielsweise Legosteine so lange und kompliziert zusammenfügen, wie wir wollen, es wird nie ein lebendes, gar sich seiner selbst bewußtes Wesen dabei herauskommen.
Genau diesem „Bindeglied“ jenseits aller Mechanik ist Henri Bergson nachgegangen, der Reichs Denken entscheidend beeinflußt hat.
Reichs funktioneller Denkansatz wurde durch den „Dialektischen Materialismus“ vorbereitet. Dieser geht auf Hegels „idealistische Dialektik“ zurück. Hegel kannte auf eine sehr abstrakte Weise die gleichzeitige funktionelle Gegensätzlichkeit und Einheit. Im ersten Teil seiner Wissenschaft der Logik schrieb er: Der Anfang ist nicht reines Nichts, sondern ein Nichts, aus dem etwas hervorgehen soll. Das Sein ist also auch im Anfang. Der Anfang umfaßt sowohl Sein als auch Nichts: er ist die Einheit von Sein und Nichts. Die Gegensätze, Sein und Nichts, sind also am Anfang in unmittelbarer, undifferenzierter Einheit. Die Analyse des Anfangs macht also den Begriff der Einheit von Sein und Nicht-Sein, oder in reflektierter Form die Einheit des Verschiedenen und des Nicht-Unterschiedenen, oder die Identität von Identität und Nicht-Identität.
Hier Hegel im Wortlaut:
Der Anfang ist nicht das reine Nichts, sondern ein Nichts, von dem etwas ausgehen soll; das Sein ist also auch schon im Anfang enthalten. Der Anfang enthält also beides, Sein und Nichts; ist die Einheit von Sein und Nichts; – oder ist Nichtsein, das zugleich Sein, und Sein, das zugleich Nichtsein ist.
Ferner Sein und Nichts sind im Anfang als unterschieden vorhanden; denn er weist auf etwas Anderes hin; – er ist ein Nichtsein, das auf das Sein als auf ein Anderes bezogen ist; das Anfangende ist noch nicht; es geht erst dem Sein zu. Der Anfang enthält also das Sein als ein solches, das sich von dem Nichtsein entfernt oder es aufhebt, als ein ihm Entgegengesetztes.
Ferner aber ist das, was anfängt, schon, ebensosehr aber ist es auch noch nicht. Die Entgegengesetzten, Sein und Nichtsein sind also in ihm in unmittelbarer Vereinigung; oder er ist ihre ununterschiedene Einheit.
Die Analyse des Anfangs gäbe somit den Begriff der Einheit des Seins und des Nichtseins, – oder in reflektierter Form, der Einheit des Unterschieden- und des Nichtunterschiedenseins, – oder der Identität der Identität und Nichtidentität. Dieser Begriff könnte als die erste, reinste d.i. abstrakteste, Definition des Absoluten angesehen werden (…). (Wissenschaft der Logik, Zweite Auflage 1841, S. 63f, Werke in zwanzig Bänden, Bd. 5, Frankfurt: Suhrkamp 1969, S. 73f)
Der Kreis schließt sich, denn wir sind hier bei Stirners „Einzigem“, der seine Sache auf nichts, das Nichts (im Sinne Hegels) gestellt hat.
Der Schweizer Orgontherapeut Dr. Alberto Foglia über zwei Fälle von „Besessenheit“ hier.
1949 erschien Äther, Gott und Teufel. Wer „Gott“ und „Teufel“ ist, wird in dem im gleichen Jahr erschienenen ausführlichen Fallbericht über eine schizophrene Spaltung in der dritten Ausgabe von Charakteranalyse erläutert. Die Stimmen, die der paranoide Schizophrene hört, sind Ausdruck von durch die Panzerung entstellter Impulse, spezifisch geht es um die Trennung von Wahrnehmung und Erregung durch Ausgenpanzerung, so daß die Wahrnehmung zunehmend eine Eigenexistenz führt, die es gilt durch Entpanzerung von neuem zu integrieren.
1951 erschienen zwei Bücher, die zumindest andeutungsweise diesen Ansatz in Frage stellen. Zunächst geht es darum, daß die Natur selbst, ohne Zutun des Menschen, entarten kann. Es geht natürlich um „DOR“, dessen Ursprung und Funktionsweise in Das ORANUR-Experiment (Teil 1) und den daran anschließenden Aufsätzen, insbesondere „Die emotionale Wüste“ (1955), erläutert wird. Im Schlußkapitel von Die kosmische Überlagerung (1951) wird das „Ich“ als inhärent so schwach gezeichnet, daß es sich abpanzern muß. Gewisserweise finden wir uns im Freudschen Paradigma wieder, was den „Todestrieb“ und das grundsätzliche „Unbehagen“ in der Welt betrifft.
In seinem letzten Buch Das ORANUR-Experiment (Teil 2) (Contact with Space) spekuliert Reich über den Einfluß „kosmischer Orgoningenieure“, die nach unseren Maßstäben vollkommen verrückt sind und vielleicht vor Jahrtausenden die Wüsten auf dem Planeten hervorriefen, die wiederum die Panzerung erzeugten. Reich verweist in diesem Zusammenhang auf die stacheligen, „monsterartigen“ Pflanzen und Kreaturen in der Wüste.
Wohin dieser, wenn man so sagen kann, „untergründige Gedankengang“ letztendlich führt, wird durch ein Kapitel in Jerome Edens Die kosmische Revolution deutlich, in dem es tatsächlich um Emanuel Swedenborgs „Dämonen“ geht.
Reich schrieb 1949 in Charakteranalyse:
Es ist für Schizophrene durchaus üblich, Stimmen von den Wänden zu hören oder Dinge dort zu sehen. Diesem typischen Erleben muß eine bestimmte elementare Funktion zugrunde liegen. Die Projektion einer bestimmten Funktion nach außen ist offenbar die Ursache für das Gefühl, gespalten zu sein. Zugleich ist die chronische Spaltung der Persönlichkeit bzw. die fehlende EINHEIT im Organismus der Boden, der die akute Spaltung hervorbringt. (S. 569)
[D]er Schizophrene hat [seinen orgonotischen Sinn] an einen anderen Ort versetzt und in die verschiedenen Wahngebilde transformiert: „Kräfte“, „Teufel“, „Stimmen“, „Elektroströme“. „Würmer im Gehirn oder Eingeweiden“ usw. (S. 591)
Mir ist gerade aufgefallen, daß jeder einzelne Horrorfilm auf einer bestimmten Wendung basiert: die Spaltung ist real, „die Dämonen an der Wand“ sind real usw., haben ihren eigenen Willen und ihre eigene Agenda. Der Schizophrene sieht eine Realität, für die andere blind sind.
Wenn sich Reich 1949 auf Swedenborg „berief“, fragt man sich, ob die angedeutete innere Logik seiner Arbeit ab 1951 dem folgenden Text eine andere Wendung gegeben hätte:
All das erinnert an Erfahrungen der Art, die uns von großen Spiritualisten und Mystikern, wie etwa Swedenborg, mitgeteilt worden sind. Es brächte uns nicht weiter, wenn wir sie aus dummer Überheblichkeit mit einem verächtlichen Lächeln abtäten. Wir müssen vielmehr an dem unausweichlichen logischen Schluß festhalten, daß jeder Erfahrung eines lebenden Organismus eine wie auch immer geartete Realität zugrunde liegt. Wenn man die mystische Erfahrung auf wissenschaftlicher Grundlage erforscht, so heißt dies ja nicht, daß man an die Existenz übernatürlicher Kräfte glaubt. Unser Ziel ist einzig, zu begreifen, was in einem lebenden Organismus vor sich geht, wenn er vom „Jenseits“, von „Geistern“ oder von einer „Seele außerhalb des Körpers“ spricht. Es ist ein hoffnungsloses Unterfangen, den Aberglauben überwinden zu wollen, ohne zu wissen, was er eigentlich ist und wie er funktioniert. Schließlich sind es doch Mystizismus und Aberglauben, die das Denken der großen Mehrheit der Menschen beherrschen und ihr Leben zerstören. Damit, daß man darüber als „Schwindel“ hinweggeht, wie es der ignorante und deshalb arrogante Mechanist zu tun pflegt, wird man gar nichts erreichen. Wir müssen ernsthaft versuchen, das mystische Erleben zu verstehen, ohne dabei selbst Mystiker zu werden. (S. 568f)
Wie ich auf diesen ganzen „offensichtlichen Unsinn“ komme? Ich verweise auf Jerry Marzinsky, einen klinischen Psychologen, der in seiner Berufskarriere es vor allem mit gewalttätigen Paranoid-Schizophrenen zu tun hatte. Dabei ist ihm aufgefallen, daß die „Stimmen“, die seine Patienten hörten, eine eigene Logik hatten und daß er seinen Patienten helfen konnte, indem er ihnen beibrachte, daß diese Stimmen nicht sie selbst seien, d.h. nichts „Verdrängtes“ an die Oberfläche dringt, sondern daß es sich um immaterielle „energetische Parasiten“ handelt, die sich, ähnlich Vampiren, am Unglück ihrer Opfer laben und mittlerweile unsere gesamte Gesellschaft bestimmen. Man gehe auf ein „alternatives“ Rockkonzert! Außerdem scheinen diese Stimmen über ein umfassendes Wissen zu verfügen, beispielsweise führen sie ihre Opfer zu Drogenverstecken, was den Stimmen den Status objektiv vorhandener Gegebenheiten verleiht. Crystal Meth-Benutzer sehen über kurz oder lang die „Schattenmenschen“, d.h. dreidimensionale humanoide Figuren, die aussehen wie schwarze Schatten ohne irgendwelche Details, die man ausmachen könnte, außer ihren roten oder lindgrünen Augen. Das besondere daran ist, daß zwei Crystal Meth-Benutzer die gleichen Schattenmenschen sehen, so als seien diese objektiv vorhanden.
Und was die erwähnten „Außerirdischen“ betrifft, über die Reich und Eden geschrieben haben, zitiert Marzinsky Carlos Castaneda:
Wir sind Gefangene eines Raubtiers, das aus den Tiefen des Kosmos kam und die Herrschaft über unser Leben übernommen hat. Die Menschen sind seine Gefangenen. Das Raubtier ist unser Herr und Meister. Es hat uns gefügig und hilflos gemacht. Wenn wir protestieren wollen, unterdrückt es unseren Protest. Wenn wir unabhängig handeln wollen, verlangt er, daß wir es nicht tun… Ich habe die ganze Zeit um den heißen Brei herumgeredet und impliziert, daß uns etwas gefangenhält. In der Tat werden wir gefangengehalten!
Um uns gehorsam, sanftmütig und schwach zu halten, haben sich die Raubtiere auf ein großartiges Manöver eingelassen, großartig natürlich aus der Sicht eines Kampfstrategen. Ein entsetzliches Manöver aus der Sicht derer, die es erleiden. Sie haben uns ihren Verstand gegeben! Hörst du mich? Die Raubtiere geben uns ihren Verstand, der zu unserem Verstand wird. Der Verstand des Raubtiers ist barock, widersprüchlich, verdrießlich, erfüllt von der Angst, jeden Moment entdeckt zu werden.
Reichs Mitarbeiter Mitte der 1930er Jahre, Karl Teschitz (d.i. Karl Motesiczky), führt aus:
Im gewöhnlichen Leben werden in unserer Gesellschaft bestimmte Vorstellungen aus dem Bewußtsein verdrängt, die dazugehörige Energie in krampfhaften Körper- und Charakterhaltungen gebunden. Im Zustand religiöser Erregung, „Erbauung“ brechen diese Kräfte plötzlich in unser Bewußtsein ein: Aber nicht so, daß sogleich eine dauernde organische Verschmelzung stattfände. Der Einbruch geschieht vielmehr bloß an einer Stelle, wie durch ein Loch, das sich nachher wieder schließt. (Religion, Kirche, Religionsstreit in Deutschland. Kopenhagen: Sexpol-Verlag, 1935, S. 75)
Woher aber, so fragt Teschitz, bezieht dieser Durchbruch seine ungeheure Energie? Es handele sich um zurückgehaltene sexuelle Energie,
die in der Ekstase allerdings in verhüllter Form durchbricht, dafür spricht die ungeheure Ähnlichkeit der Ektase mit dem Höhepunkt des sexuellen Erlebens, dem Orgasmus. Hier wie dort gehen willkürliche Vorbereitungen, Muskelbewegungen in einem bestimmten Augenblick in unwillkürliche über, hier wie dort wird der entscheidende Höhepunkt plötzlich ansteigend und kurz dauernd in passiver Hingegebenheit erlebt. Hier wie dort ist er mit allgemeiner Erregung und mit bestimmten Körpersensationen verbunden (Gefühl des Strömens, Stocken des Atems), jede Ablenkung durch äußere Vorgänge wird als störend und schmerzhaft empfunden, hier wie dort stellt auch die Phantasie im Augenblick höchster Erregung ihre Tätigkeit ein, Phantasien während des Akts sind Zeichen einer Störung. Kurz vorher hat man das Gefühl des Eindringens und Durchdrungenwerdens, während das Gefühl der eigenen Persönlichkeit sich auflöst. (ebd., S. 78f)
Dazu zitiert Teschitz die heilige Theresa, die die mystische Vereinigung mit Gott mit vier Arten vergleicht, einen Garten zu bewässern:
Zuerst kann man mit Mühe und Anstrengung Wasser aus einem Brunnen schöpfen. Dann kann man eine Standpumpe mit Ausguß gebrauchen, die man mit einem Schwengel in Gang setzt und diese Methode habe ich selbst oft gebraucht: Sie ist minder anstrengend und man bekommt mehr Wasser. Weiter kann man Wasser aus einem Bach oder einem Teich hereinleiten; die Bewässerung ist dann besser, die Erde wird bis in größere Tiefe feucht, man muß nicht so oft gießen und der Gärtner hat nicht annähernd so schwere Arbeit mehr. Die vierte Art ist ein reichlicher Regen, und das ist die ohne Vergleich beste Art, denn dann ist es der Herr selbst, der wässert, ohne irgendwelche Arbeit von unserer Seite.
Das „Pumpen“ geschehe durch Konzentration auf Jesus Christus und sein Leben. Das rinnende Wasser entspräche einem „Schlaf der Seelenkräfte, ein Zustand, da sie nicht völlig verschwunden sind, aber dennoch nicht wissen, wie sie wirken (…) Man könnte es vergleichen mit jemand, der schon mit dem geweihten Wachslicht in der Hand jeden Augenblick den Tod erwartet, ihn erwartet mit brennender Sehnsucht. In diesen letzten Atemzügen ist die Seele überflutet von unsäglicher Freude.“ Man „stirbt der Welt“ und die Seele wisse nicht, ob sie reden oder weinen solle. „Es ist für die Seele ein unendlich seliges Genießen“, wobei „der Körper deutlich an ihrem Glück und Ihrer Seligkeit teilnimmt“. Aber man sei noch immer nicht ganz mit Gott vereint und wir kommen zur Stufe 4, wo man nur genießt, ohne zu wissen, was man genießt.
Alle Sinne sind so aufgesogen in diesem Genuß, daß keiner von ihnen frei ist, sich mit etwas anderem abzugeben, sei es nun das Äußere oder das Innere… Der Körper ist ohnmächtig und die Seele ist unfähig, das Glück vorauszusehen, das sie genießt… Zu Beginn kam dieses Wasser vom Himmel fast immer nach einem innerlichen Gebet… Während die Seele auf diese Weise ihren Gott sucht, fühlt sie mit starkem und süßem Empfinden, daß sie das Meiste nicht weiß. Der Atem steht stille, die Körperkräfte versinken, so daß man nicht einmal die Hände ausstrecken kann, ohne daß es weh tut. Nach meiner Meinung dauert es niemals lang, daß auf diese Weise alle Seelenkräfte zugleich stillstehen… Ich sage es noch einmal: Dies, daß die Kräfte ganz untätig sind, daß auch die Phantasie nicht arbeitet – denn meiner Meinung nach ist auch die Phantasie unwirksam – das dauert niemals lange. …Wir kommen nun zu den innersten Empfindungen der Seele in diesem Zustand… Ich für meinen Teil halte es für unmöglich, etwas davon zu wissen oder gar von ihnen zu sprechen. Da ich mich nun zum Schreiben setzte, fragte ich mich, was die Seele da macht; es war nach dem Altargang und ich kam eben aus dem Orationszustand, von dem ich spreche. Da sagte mir Unser Herr diese Worte: Du wirst aufgezehrt, meine Tochter, von einem Drang, tiefer in mich einzudringen. Es ist nicht mehr länger sie, die lebt, ich bin es, der in ihr lebt. (z.n. ebd. S. 76f)
Teschitz kommentiert:
Im Akt selbst ist der Mensch ein Stück Natur geworden, die Empfindungen dabei sind darum nahezu unaussprechlich und es hat eingehender klinischer Beobachtung bedurft, um die Orgasmusphänomenologie auch nur so weit auszuarbeiten, wie wir heute damit gekommen sind. Doch die sexuelle Energie kann im sexualverneinenden religiösen Menschen nicht als solche durchbrechen, sie kann auch nicht in der einzig wirklich natürlichen Form als Erregung und Entspannung am Genitale abgeführt werden. An Stelle dessen tritt die phantasierte Vereinigung mit einem Bild des Vaters (oder der Mutter). (…) Mit der phantasierten Vereinigung in der religiösen Ekstase müssen allerdings auch gewisse körperliche Vorgänge Hand in Hand gehen, die mit der körperlichen Erschütterung und Entlastung im sexuellen Orgasmus eine Ähnlichkeit haben: Denn in beiden Fällen berichten die Betreffenden von Körpersensationen, aber auch von dem Gefühl von Befreiung, Erleichterung, unaussprechlichen Glücks nachher. Doch wissen wir über die körperliche Grundlage der religiösen Ekstase noch weniger als über die des Orgasmus, nämlich gar nichts. Doch die Minderwertigkeit der „ekstatischen“ Befriedigung gegenüber der orgastischen beweist die Angst, mit der diese Befriedigung selbst bei der heiligen Theresa verbunden ist und die beim orgastisch potenten gesunden Menschen natürlich fehlt. Diese Angst spielt bei andern Mystikern und Propheten aber auch bei den gewöhnlichen Gläubigen eine entscheidende, oft das ganze Leben beherrschende und wir können ruhig sagen vergiftende Rolle. Der religiöse „Orgasmus“ ist darum teuer bezahlt. Er schwindet aber zusammen mit aller religiösen Bindung sogleich, wenn wir bei einem religiösen Menschen in der Analyse die Fähigkeit zum wirklichen Orgasmus herstellen. (ebd., S. 79)
Bei der Religion und heute in Zeiten des Antiautoritarismus der „Spiritualität“ geht es stets um zweierlei: um genitale Orgasmusangst und um einen vermeintlich ebenbürtigen, wenn nicht sogar höherwertigen Ersatz-Orgasmus. Man denke nur an Rumis Ausspruch: „Der Wunsch, Deine Seele zu kennen, wird alle Deine anderen Wünsche beenden.“
Was speziell das moderne „spirituelle“ Gesülze betrifft, das den altertümlichen Mystizismus weitgehend abgelöst hat, – dazu möchte ich nochmals Teschitz zitieren: „Das Gefühl der Ferne, Unerreichbarkeit, des Geheimnisvollen entspricht der unmittelbaren Wahrnehmung, daß die vegetative Sehnsucht des sexuell gestörten Menschen nie wirklich befriedigt werden kann“ (ebd., S. 87).
Reich definierte Mystik als Glaube, daß der „Geist“, bzw. die „Seele“, unabhängig vom Körper existieren könne. Er führte diese „Weltanschauung“ auf die Panzerung des Organismus zurück. Der Panzer trennt den Menschen von der organismischen Orgonenergie, die dergestalt in ein „Jenseits“ versetzt (Mystizismus) oder ganz negiert wird (Mechanismus). Genauer betrachtet, stellt der Panzer eine unüberbrückbare Barriere dar zwischen der „körperlichen Welt“ (bioenergetische Erregung) und der „geistigen Welt“ (Wahrnehmung), die dergestalt, so das Empfinden des Mystikers, ein Eigenleben führt.
Normalerweise kommt dieses Weltgefühl in Religionen und Philosophien zum Ausdruck, die sich in einer ausgeklügelten Märchenwelt aus Engeln und Dämonen erschöpfen, die praktisch nichts mehr mit der Wirklichkeit zu tun hat; eine Parallelwelt, wie etwa im Volkskatholizismus, wo bioenergetische Erregungen auf verzerrte und „irreale“ Weise wahrgenommen werden, dabei jedoch die alltägliche Welt verhältnismäßig adäquat und realitätsgerecht gemeistert wird. In extremen Fällen kann es zu einer Art „Umkehr“ oder „Perspektivwechsel“ kommen: die „geistige Welt“ wird zur eigentlich realen Welt und die materielle Welt irreal. Es ist das kindische Weltempfinden, das von Hollywood mit seinen Superhelden a la „X-Men“ oder „Bruce allmächtig“ verbreitet wird. Offensichtlich hängt dies mit einer stärkeren Augenpanzerung zusammen, wie sie für die diversen religiösen Bewegungen des „New Age“ und für „östliche Weisheitsschulen“ typisch ist. „Gott“ (die verzerrte Wahrnehmung der kosmischen Orgonenergie) tritt zunehmend in den Hintergrund und der eigene „Geist“ (die von der Erregung abgespaltene Wahrnehmung) in den Vordergrund. Verzerrter Kontakt macht vollständiger Kontaktlosigkeit platz.
Nunmehr ist es die materielle Welt, die sich „dem Geist“ zu unterwerfen hat, der sich aus seiner „Gefangenschaft in der von ihm doch erschaffenen Materie“ wieder befreien soll. Das ist natürlich eine Travestie der von Reich in Die kosmische Überlagerung beschriebenen bioenergetischen Realität, daß die Materie durch Überlagerung aus der kosmischen Orgonenergie hervorgegangen ist und in Lebewesen diese Energie in einer materiellen Membran „gefangen“ ist. Entsprechend wirken diese extrem mystischen Doktrinen nicht nur teilweise geradezu rational (sie appellieren an unsere tiefsten bioenergetischen Empfindungen), sondern sie sind in einem gewissen Maße auch wirksam, d.h. mit ihrer Hilfe läßt sich teilweise die Orgonenergie tatsächlich „geistig“ beeinflussen. Auf diese Weise „fixen“ die diversen Kulte ihre Anhänger an, auch wenn sich später diese anfänglichen positiven Resultate nicht weiter vertiefen lassen und die Adepten selbst zunehmend „verflachen“. (Es ist wie beim Heroin, wo am Anfang der Rausch steht und am Ende Abhängigkeit, obwohl die „Highs“ immer flacher werden.) Man denke an Scientology, Geistheilung, Transzendentale Meditation, Neo-Satanismus und ähnlichen Unsinn, der anfangs manchmal recht überzeugend wirkt, aber nirgends hinführt.
Obwohl Linke wegen ihres mangelnden Kernkontakts gemeinhin einer eher „materialistischen“ Weltanschauung anhängen, ähnelt ihre Herangehensweise an gesellschaftliche Probleme auf verblüffende Weise dem Grundkonzept der extremen Mystiker: die Welt hat sich den „Postulaten“ der „Intellektuellen“ – den Postulaten des „Geistes“ zu unterwerfen (sozusagen: „Es werde Licht!“). Diese Leute glauben allen ernstes man könne die Wirtschaft mit einem „Plan“ regulieren. Das ist so, weil sie genauso wie die extremen Mystiker unter einer sehr starken Augenpanzerung leiden. (Beispielsweise wollen diese Spinner die Einwanderung von Fachkräften fördern, verlangen aber gleichzeitig die höhere Besteuerung „der Reichen“.)
Während die gemäßigte Linke, die traditionellen Sozialdemokraten, von einer „gerechten Gesellschaft“ träumen (Reich sprach von „sozialistischer Sehnsucht“), versucht die extreme Linke diesen Traum tatsächlich umzusetzen („demokratischer Sozialismus“, Kommunismus). Bei Licht betrachtet ist dieser Traum natürlich vollständiger Unsinn: je sozial durchlässiger eine Gesellschaft wird, desto schneller setzen sich die Fähigen gegen die Unfähigen durch – will man diese „Ungerechtigkeit“ korrigieren, ist das extrem ungerecht gegenüber den Fähigen. Am Anfang hat die extreme Linke beim Durchsetzen des dergestalt vollständig absurden sozialistischen Projekts teilweise tatsächlich Erfolge, weil „endlich mal etwas getan wird“, sie die Massen begeistern und mitreißen können (nicht zuletzt Reich selbst hat das Ende der 1920er Jahre beeindruckt), – doch sehr schnell wird es zu einem Alptraum, eben weil „Gerechtigkeit“ ein natur- und wirklichkeitswidriges Unterfangen ist und nur mit extremer Brutalität künstlich durchgesetzt werden kann. (Ein echter Linker kriegt spätestens jetzt entweder einen Ohnmachtsanfall oder er entwickelt einen mörderischen Haß auf mich!)
Auch in dieser Hinsicht ähneln sich die extreme Mystik und die extreme Linke: am Ende sind sowohl mystische Kulte als auch kommunistische Staaten kaum mehr als Konzentrationslager voller halbtoter Zombies. Man denke etwa an Falun Gong und den Maoismus in China.
Hitler und Mao waren mit ihrem absurden Voluntarismus, der Haltung, daß der „Wille“ bzw. das „richtige Bewußtsein“ alle materiellen Widerstände hinwegfegen würden, zwei Hauptbeispiele einer mystischen Geisteshaltung, die mit bloßen Postulaten die „materielle Welt“ beeinflussen, ja beherrschen will. Der gemäßigten Rechten und gemäßigten Linken ist derartiger Triumphalismus fremd. Sie sitzen passiv da und träumen von einer „besseren Welt“ im Jenseits bzw. in der Zukunft. Gott oder „der Gang der Dinge“ werde sie bringen.
Der verborgene Mystizismus der Linken ist letztendlich darauf zurückzuführen, daß das mechanistische Weltbild seine Lücken und Ungereimtheiten nur mit mystischen Konzepten flicken kann. Beispielsweise dürfte es nach materialistischer Geschichtsauffassung gar kein „proletarisches Klassenbewußtsein“ geben. Lenin hat das offen eingestanden: das Klassenbewußtsein müsse von außen in das Proletariat hineingetragen werden – durch Hegelianer!
Dieser Planet ist ein Irrenhaus.