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Ergänzung zu „Reichs Gründe der Abkehr von der Tagespolitik (Teil 8)“ (Teil 1)

19. Juli 2021

In Teil 8, Fußnote 7 schreibt Robert Hase, Reich beziehe sich bei seiner Äußerung über seine funktionelle Methode, die in Studien zur Wahrnehmung ihre Wurzeln habe, u.a. auf den Naturphilosophen Hans Driesch. Der Zusammenhang mit Driesch war mir nicht recht einleuchtend. Soweit ich das überblicke, erwähnt Reich in dem Text Driesch nirgends. Auch erwähnt er Driesch nicht in Äther, Gott und Teufel, sondern u.a.: Albert Lange, Henri Bergson, Richard Semon und Friedrich Engels.

Inzwischen hat mich der Autor darauf hingewiesen, daß Reich sich in Die Funktion des Orgasmus (Fischer TB, S. 28) auf Driesch bezieht, außerdem verweist Hase auf Driesch‘ Buch Alltagsrätsel des Seelenlebens. Beim Googeln stößt man auf folgendes zu diesem Buch: „Hans Driesch, Schüler Ernst Haeckels, gilt als Neubegründer der vitalistischen Lehre. Ausgehend von Problemen der Psychophysik, behandelt er hier alltägliche Erscheinungen wie Wahrnehmung und Erinnerung, wobei sich immer wieder Beziehungen zu parapsychologischen Phänomenen ergeben.“

Friedrich Albert Lange hatte in seiner Geschichte des Materialismus dargelegt, daß der Materialismus erstens die einzig vertretbare, ernstzunehmende, wissenschaftliche Annäherungsweise an das Verstehen der Wirklichkeit sei, andererseits aber Wahrnehmung, Bewußtsein und Gefühlsleben, also das „Innenleben“ und was daraus als Kultur und Wissenschaft hervorgeht (das „Geistesleben“), nicht mal annäherungsweise erklären kann, da es von den Atomen im leeren Raum (Materialismus) zum Bewußtsein keinen denkbaren Schritt gibt. Bei Lange lernte Reich, daß es eine (buchstäbliche!) Lücke in der Wissenschaft gibt, die zu füllen er zu seiner Lebensaufgabe machte. (Siehe auch Reichs Ausführungen über Kant und „das Ding an sich“ in Äther, Gott und Teufel.)

Hierher, zu der von Lange aufgezeigten Problematik, gehört auch Driesch, der mit seinem „Vitalismus“ zeigte, daß das Lebendige nicht als Maschine (wieder die Atome!) erklärt werden kann. Anders als der Kantschüler Lange flüchtete Driesch jedoch kurzschlußartig in den Mystizismus, der so gut wie nichts erklärt; ein billiger Schritt, den Reich vermeiden wollte. Dazu wurde er durch die Denkweise von Lange und etwa Friedrich Engels befähigt.

Driesch‘ Vitalismus gemahnt natürlich an Henri Bergsons „Lebensschwung“ (Élan vital). Bergson hat zwar die Welt der Atome nicht geleugnet, aber darauf bestanden, daß das Innenleben und das Lebendige eine eigene Sphäre bilden, die nach eigenen unmechanischen Gesetzmäßigkeiten abläuft. Beispielsweise kann man das Phänomen Erinnerung, und daß man imgrunde nichts wirklich unwiederrufbar vergißt, auf keinen Fall materialistisch erklären. Das ist mit dem Gefühl der „Dauer“ verbunden, d.h. der Kontinuität des Zeitablaufs. Google sagt: „‘Dauer ist das Unteilbare und Substantielle.‘ Die Dauer, die wirkliche Zeit, ist als eine unteilbare Kontinuität von Veränderung zu denken: Die Dauer ist somit die unteilbar wahrgenommene Zeit.“ Imgrunde wollte Bergson die Integrität des „Inneren“ und Organischen, das organisch Zusammenhängende, gegen die Zumutungen der teilenden, punktuellen („leeren“, „atomistischen“) mechanischen Welt wahren. Reichs Funktionalismus ist letztendlich der Versuch diese beiden unvereinbaren Welten zu vereinigen, ohne mystisch oder mechanistisch zu werden. Siehe dazu seine entsprechenden Ausführungen in Äther, Gott und Teufel.

Folgendes Interview mit dem Physiker Thomas Campbell beschreibt sehr schön, wie Driesch und Bergson, mit Vorbehalten vielleicht Lange heute ungefähr argumentieren würden. Es geht dabei vor allem um Quantenmechanik. (Die weltweit mit Abstand beste Einführung in dieselbe findet sich hier.) Besonders gut hat mir Campbells Gedankenfolge gefallen: Bewußtsein = Wahrnehmung plus Entscheidung fällen, Entscheidungen könne man aber nur treffen, wenn die Zeit real und fundamental ist. Auch wie das Campbell mit Entropieabnahme in Zusammenhang bringt…

Der Rest des Videos mit „Urknall“, Parapsychologie, daß wir in einer sich entwickelnden Simulation leben, bzw. (dreidimensionale) World of Warcraft-Figuren auf einem Bildschirm sind und mit unserem Bewußtsein auf die zentrale „Datenbank“ zurückgreifen können, zeigt mal wieder zu welchen extremst mechanistischen und gleichzeitig mystischen Konsequenzen jede Wissenschaft führen muß, die den Kontakt zum Leben, letztendlich der Lebensenergie verloren hat. Allein schon der absurde Gedanke, daß World of Warcraft-Figuren Quantenmechanik betreiben und so auf die Natur der Realität stoßen… Campbell stößt in der Quantenmechanik auf das, was Geist ist, erklärt diese Anomalie aber als Ausdruck einer Simulation. Mechanistischer kann man kaum denken. Reich ist von einer ganz ähnlichen, den damaligen Verhältnissen und Erkenntnissen entsprechenden, mechano-mystischen Weltsicht ausgegangen, wie sie das obige Video für heute repräsentiert. Sozusagen die „Welt als Wille und Vorstellung“ (Schopenhauer hat Reich damals auch gelesen).

Orgonometrie (Teil 3): Kapitel 5

12. Februar 2019

orgonometrieteil12

5. Reichs Selbstverständnis als Naturwissenschaftler

Orgonometrie (Teil 2): Kapitel VI.13.

27. Mai 2016

orgonometrieteil12

I. Zusammenfassung

II. Die Hauptgleichung

III. Reichs „Freudo-Marxismus“

IV. Reichs Beitrag zur Psychosomatik

V. Reichs Biophysik

VI. Äther, Gott und Teufel

1. Der modern-liberale (pseudo-liberale) Charakter

2. Spiritualität und die sensationelle Pest

3. Die Biologie zwischen links und rechts

4. Der bioenergetische Hintergrund der Klassenstruktur

5. Die Illusion vom Paradies und die zwei Arten von „Magie“

6. Die gesellschaftlichen Tabus

7. Animismus, Polytheismus, Monotheismus

8. Dreifaltigkeit

9. „Ätherströme“, Überlagerung und gleichzeitige Wirkung

10. Die Schöpfungsfunktion

11. Die Rechtslastigkeit der Naturwissenschaft

12. Bewegung und Bezugssystem

13. Der Geist in der Maschine

Wilhelm Reich: Arzt und Physiker

8. August 2014

Dr. med. Wilhelm Reich steht mit seiner Entdeckung der Orgonenergie in einer kontinuierlichen Tradition von Ärzten, die der Physik neue Wege gewiesen haben. Diese Herangehensweise war äußerst fruchtbar, die umgekehrte, von der unbelebten Natur auf die belebte zu schließen, hat uns die mechanistische Genetik gebracht. Hier die Tradition, in der Reich steht:

Der Arzt Georg Bauer alias Agricola (1494-1555) hat die Gesteins- und Bergbaukunde begründet. Als größte Autorität auf dem Gebiet des Magnetismus in seiner Zeit und als Begründer der experimentellen Methode ist der Arzt William Gilbert (1540-1603) hervorgetreten. Von ihm stammt der Begriff „elektrisch“. Sein Berufskollege und Begründer der naturwissenschaftlichen Denkrichtung in der Medizin, Santoro Santorio (1561-1636), der auch eine medizinische Waage zum Studium des Stoffwechsels konstruierte, maß nicht nur als erster das Fieber mit dem Thermometer, sondern erfand auch den Feuchtigkeitsmesser. Der Mediziner und „Iatrochemiker“ Johann Baptist Helmont (1577-1644) unterschied erstmalig andere Gase vom „Element Luft“. James Hutton (1726-97), ebenfalls Arzt, war der Begründer der Geologie. Der Medizinprofessor Joseph Black (1728-99) entdeckte die spezifische Wärme und die Umwandlungswärme.

Der Professor der Anatomie Luigi Galvani (1737-98) half mit, die moderne Elektrizitätslehre zu begründen. Bizzi und Chiurco, zwei Mitarbeiter Walter Hoppes (der Anfang der 1970er Jahre die Orgonomie nach Deutschland brachte), schreiben über Galvanis Forschungen, mit ihnen hätte er sich als erster der Lebensenergie experimentell genähert. Obwohl er als Gründer der Elektrophysiologie anerkannt wird, begründete er in Wirklichkeit eine Theorie der Lebensenergie. Er nannte die von ihm entdeckte biologische Energie zunächst „animalische Elektrizität“, dann „galvanisches Fluidum“ und schließlich „Lebenskraft“. (Eine verblüffende Parallele zur Geschichte des Begriffs „Orgonenergie“.) Galvani ging sogar so weit, eine Verbindung zwischen der atmosphärischen Elektrizität, zwischen dem „elektrischen“ Ozean und dem Organismus zu postulieren. Diesen Punkt bringen die Autoren in Zusammenhang mit dem Konzept Benjamin Franklins (1706-90), der elektrostatische Phänomene mit einem pulsierenden „einheitlichen Fluidum“ erklärte (Hoppe: Wilhelm Reich, München 1984).

Der Arzt Thomas Young (1773-1829) gelangte über die Beschäftigung mit der physiologischen Augenoptik zur Wiederaufnahme der Huygenschen Wellentheorie. Ein anderer Mediziner, William Prout (1785-1850), stellte die für die Entwicklung von Chemie und Physik so fruchtbare und nach ihm benannte Hypothese auf, daß die Atome der Elemente aus Mehrfachen des Wasserstoffatoms bestünden. Ernst Heinrich Weber (1795-1878), ein Professor der Anatomie und Physiologie, begründete experimentell mit seinem Bruder, dem Physik-Professor Wilhelm Edward Weber (1804-1891), die Wellentheorie. Sie machten die ersten Beobachtungen über den Unterschied zwischen Gruppen- und Wellengeschwindigkeit. Der berühmte Léon Foucault (1819-1868) war von Haus aus Mediziner. Mit seinen Pendelversuchen wies er experimentell die Achsendrehung der Erde nach, er maß die Lichtgeschwindigkeit und arbeitete über die induzierten elektro-magnetischen „Foucaultschen“ Wirbelströme.

Julius Robert Mayer (1814-1878) formulierte als erster den allgemeinen Energieerhaltungssatz. Durch Beobachtungen in seiner ärztlichen Praxis war er zu dem Schluß gelangt, daß mechanische Energie, Wärme und chemische Energie äquivalent seien. Auf dem gleichen Gebiet und in die gleiche Richtung, von der Biologie zur Physik hin, arbeitete der Professor der Physiologie Hermann von Helmholtz (1821-1894), der später Physik lehrte. Er erfand Instrumente zur Untersuchung der Augen, begründete die physikalische Theorie der Tonempfindung, beschäftigte sich mit der Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Nervenerregung und brachte z.B. die Hypothese von der atomaren Natur der Elektrizität auf. Der Physiologe Henry Gray (1825-1861) unterschied zwischen Leiter und Nichtleiter für Elektrizität.

Reich war über seine ausgeprägten naturwissenschaftlichen Interessen zur Medizin gelangt und hier vor allen Dingen zur Sexologie. So mußte er zwangsläufig auf Freud stoßen. Dessen Theorien gingen aus seiner neurologischen Forschung, aus der Darwinistischen Biologie (z.B. Onto- als Wiederholung der Phylogenese) oder beispielsweise aus der „Psychophysik“ Gustav Theodor Fechners (1801-87) hervor, der wiederum als Schelling-Schüler auf die deutsche Naturphilosophie zurückgeht.

Heute wird gerne so getan, als hätte Freud den Begriff „Energie“ (ursprünglich ein biologischer Begriff) nur als reine Metapher benutzt, doch war es für ihn vielmehr ein erklärendes Konstrukt. Reich hat dann gezeigt, daß diesem Konstrukt eine Wirklichkeit entsprach. Doch während Freud sich von seinem Hintergrund als Physiologe emanzipieren wollte, führte Reich den ursprünglichen naturwissenschaftlichen Ansatz weiter, kam zur Biologie und schließlich, wie viele Ärzte vor ihm, zur Physik und begründete dabei ähnlich wie der Arzt Franz Anton Mesmer (1734-1815) ein neues naturwissenschaftliches Lehrgebäude. Die Systeme beider Männer reichten von Fragen der Medizin, oder z.B. der Erziehung, bis hin zu physikalischen Betrachtungen über Elektrizität und Gravitation. Es gibt auch eine direkte Linie von Mesmer zu Reich, denn der Mesmer-Schüler Puysegur erfand die Hypnose, wie sie von Freuds Lehrer Charcot praktiziert wurde.

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Außer über den dänischen Physiker und Schelling-Schüler Hans Christian Oerstedt (1777-1851) hatte die deutsche „Naturphilosophie“ fast keinerlei Einfluß auf die Physik. (Eine Ausnahme ist der Einfluß der „deutschen Lebensphilosophie“ auf Leute wie Heisenberg bei der Ausformulierung der Quantenmechanik.) Die Naturphilosophie hatte Oerstedt dazu gebracht, nach der Einheit in der Natur zu suchen. So schlug er die Brücke zwischen Elektrizität und Magnetismus. Entscheidenden Einfluß hatte die Naturphilosophie auf die Biologie (z.B. auf die Zellenlehre und Embryologie). Mit Reich sollte ein Ausläufer der Naturphilosophie (vermittelt durch Bergson, Freud und andere) mit ihren Hauptcharakteristiken (Lebensenergiekonzept und im weitesten Sinne „dialektische“ Betrachtungsweise) endlich auch der Physik zu konkreten Entdeckungen verhelfen, nachdem Goethe mit seiner Farbenlehre gescheitert war und nur im biologischen Bereich „subjektiver Farben“ wirken konnte.

Während in der Biologie die Mechanisten Anhänger der falschen Präformationslehre waren (der ganze Organismus sei schon im Keimei vollständig en miniature vorhanden), folgten die Vitalisten der richtigen Theorie der Epigenese (der Organismus entwickelt sich durch Neubildung aus der Keimenergie einer spezifischen Formkraft). Ähnlich nahm Reich die Naturgesetze nicht als gegeben, statisch und unveränderlich hin, sondern suchte ihre Genese zu ergründen, sie auf Orgonenergie-Funktionen zu gründen.