
Wilhelm Reich, Physiker: 1. Biophilosophie, d. Kant, Swedenborg, Newton und LaMettrie
Reich ging in seiner Studentenzeit zwischen in etwa 1919 und 1922 von vier Punkten aus, die sein gesamtes späteres Lebenswerk prägten:
Zusammengefaßt ist das die Theorie von der Lebensenergie und ihrer Sperrung durch die Panzerung (Über-Ich). Sie entfaltet sich aus sich heraus „von innen“ auf natürliche Weise, wird aber „von außen“ gestört und entartet entsprechend, d.h. wird selbst zu einem Störfaktor. Das, was er später als „seelische Pest“ bzw. „emotionelle Pest“ bezeichnen sollte, breitet sich entsprechend aus. Die Menschen versuchen das entstehende Chaos mit „Moral“ in den Griff zu bekommen, doch verschlimmert dies die Situation noch mehr.
Nietzsche hatte wie kaum ein anderer ein Gefühl für diese Dynamik, nur kam dieser „Sado-Masochist an sich selber“ (so Lou Salome über Nietzsche) zu der – sadomasochistischen Vorstellung, daß der Mensch an diesem Konflikt zu wachsen habe. Aus dem Krampf soll virtuose Eleganz und aus der Lüge die Wahrheit erwachsen, aus der Überspanntheit eine neue Leichtigkeit. Aus sekundären Trieben soll etwas Authentisches und Wertvolles werden. My Sister and I enttarnt das alles als Perversion und Flucht vor dem Leben.
1927 erschien das Buch Die Funktion des Orgasmus, das die Grundlage der spezifischen Lebensarbeit Reichs darstellt. In den folgenden Jahren arbeitete Reich in fünf Bereichen die Grundlagen dessen aus, was wir heute als „Orgonomie“ kennen.
1. Er wurde zu einem militanten Marxisten, der im Anschluß, angefangen mit der 1934 erschienen Schrift Was ist Klassenbewußtsein? sich das Konzept erarbeitete, das er später als „Arbeitsdemokratie“ bezeichnete.
2. Er engagierte sich in der Sexualreformbewegung und erarbeitete im Rückgriff auf die Arbeit von Bronislaw Malinowski die theoretischen Grundlagen seines späteren Konzepts „Kinder der Zukunft“.
3. Er baute die Psychoanalyse zur Charakteranalyse aus, um diese dann ab 1934 zur „charakteranalytischen Vegetotherapie“ zu erweitern.
4. Auf der Grundlage der damaligen biomedizinischen Forschung, insbesondere der von Friedrich Kraus („vegetative Strömung“), legte er die theoretischen Grundlagen dessen, was er ab1934 als „sexualökonomische Lebensforschung“ bezeichnete.
5. Mit der Ausarbeitung und Weiterentwicklung des auf Marx und Engels zurückgehenden Dialektischen Materialismus legte er die Grundlagen des späteren „orgonomischen Funktionalismus“.
Bemerkenswerterweise wurden diese fünf Stränge nicht nur zwischen 1927 und 1934 zu Zeiten seines sehr zeitaufwendigen und lebensgefährlichen politischen Engagements ausgeformt, sondern lassen sich jeweils auf seine Formations- und Selbstfindungsjahre zwischen 1919 und 1926 zurückverfolgen. Sein starkes soziales Engagement zeigte sich bereits in seiner Arbeit am von ihm angeregten psychoanalytischen Ambulatorium für Mittellose in Wien. Eine Arbeit, die sich in seinem ersten Buch, Der triebhafte Charakter (1925), niederschlug, das sich hauptsächlich mit dem „Lumpenproletariat“, sozusagen „den Wilden“ der Neuzeit, beschäftigte und das seine ersten charakteranalytischen Formulierungen enthält. Es sei auch auf seine beiden Artikel über „Eltern als Erzieher“ (1926) und seine frühen naturphilosophischen Studien (insbesondere Henri Bergson und F.A. Lange) verwiesen. Nach 1927 (Die Funktion des Orgasmus) kondensierten sich diese Anfänge zu den genannten fünf Strängen.
Die Zeit zwischen 1927 und 1934 ist kaum zu überschätzen und man reibt sich die Augen, was der Mann in diesen sieben Jahren alles geleistet hat. Nicht nur, daß er die Psychoanalyse zur Charakteranalyse weiterentwickelte, kreierte er auch eine eigenständige Massenpsychologie und das nicht nur in der bequemen Schreibstube, sondern im aktiven politischen Kampf. Sowohl in Wien als auch in Berlin baute er eine sexualpolitische Organisation auf. Quasi nebenbei schrieb er ein Buch zur Ethnographie, das selbst Bronislaw Malinowski selbst beeindruckte, und verfaßte eine sexualsoziologische Studie. Später wurden sie bekannt als Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral und als Die sexuelle Revolution. Und er bereitete spätestens mit seiner bahnbrechenden Studie über den masochistischen Charakter, die Anlaß des endgültigen Bruchs mit Freud war, den „Einbruch ins biologische Fundament“ vor.
Wie in Teil 1 angeschnitten, gibt es prinzipiell zwei Antworten auf die Frage nach dem „Leben nach dem Tode“:
1. Ausgehend von der „atomistischen“ Physik des 19. Jahrhunderts und einer „wirklich“ unendlichen Zeit des Universums sollte es eine Wiederkehr jedes beliebigen Zeitpunktes geben, darüber hinaus sogar eine unendlich häufige Wiederkehr desselben. Dies war aber nur die sozusagen „objektive“ Oberfläche von Nietzsches Konzept der ewigen Widerkehr. Tatsächlich ging es ihm weitaus mehr um den subjektiven Aspekt dieses „Die Welt ist tief!“ Mich gibt es nur im Zusammenhang mit meiner Umgebung, d.h. dem gesamten Universum. Ist irgendetwas anders, dann bin ich nicht mehr ich, was nichts anderes bedeutet, als daß ICH die ewige Wiederkehr bin. Jeder Augenblick ist das Siegel der Ewigkeit. Wenn man demnach eine Uhr betrachtet, diese mit dem Universum gleichsetzt und gewahr wird, daß jede beliebige „objektive“ Zeigerstellung ewig wiederkehren wird, dann gehört zu dieser Uhr bzw. diesem Universum vor allem auch mein jeweiliger subjektiver Zustand.
Dieses Konzept war nie sehr überzeugend, doch interessanterweise hat die Physik des 20. Jahrhunderts, die das „Legobaustein-Universum“ ad absurdum führte, diesen Weltentwurf erst tragbar gemacht, denn mit der Quantenphysik war nicht nur der Beobachter unlösbar mit dem Beobachteten verknüpft, sondern es war (Stichwort EPR-Paradoxon) konzeptionell vorstellbar, daß alles mit allem „verschränkt“ ist. Unsere Existenz und unsere Stellung im Weltraum hat damit ein Gewicht, die jedes Spekulieren über ein Fortleben über den Tod hinaus zu einer beiläufigen Marginalie macht. Die Ewigkeit ist hier und jetzt!
2. Ursprünglich gab es in der Orgonomie keinerlei Platz für ein Leben nach dem Tod. Leben ist das Pulsieren und Fließen von kosmischer Orgonenergie innerhalb einer Membran. Sie wird dadurch zu organismischer Orgonenergie, die sich wieder zu kosmischer Orgonenergie wandelt, löst sich die besagte Membran auf. Verkürzt dargestellt, aber den Kern der Angelegenheit treffend.
Alles ist Bewegung (Pulsation und Kreiselwelle) und deshalb ist eine die Zeiten überdauernde Identität ausgeschlossen. Alles löst sich schließlich auf und Neues entsteht. Wenn man so will „energetischer Materialismus“. Tatsächlich ist das aber eine einseitige Darstellung, die die Realität nicht trifft. Wie bei Punkt 1 weist uns wieder die Quantenphysik in die richtige Richtung. Ich spreche von der „ko-existierenden Wirkung“, ein Begriff den Charles Konia vom genannten EPR-Paradoxon abgeleitet hat. In der Natur gibt es Funktionen, die so ablaufen, als gäbe es den trennenden Raum zwischen Objekten nicht (die bereits erwähnte „Verschränkung“), d.h. die Wirkung erfolgt an Punkt A und B gleichzeitig. Unser Bewußtsein ist genau das: es hat keine Teile, der Raumbegriff macht bei ihm keinen Sinn. Henri Bergson hat viel darüber geschrieben und Reich ist von diesen Überlegungen ausgegangen; oder etwa auch von F.A. Langes Ausführungen, daß kein denkbarer Weg von den Atomen zum Bewußtsein führt.
Wir kennen den Tod aus eigenem täglichen Erleben: den Schlaf, der uns den Traum schenkt, in dem wir ganz und gar in eine Welt eintauchen, die von der „ko-existierenden Wirkung“ geprägt ist. Was der Orgasmus im Bereich der Orgonenergie-Bewegung ist (die gestaute Orgonenergie verläßt explosionsartig die Membran, „ich komme“ – der „kleine Tod“), ist der Traum im Bereich der ko-existierenden Wirkung. Der Schlaf sorgt dafür, daß wir unser hohes Orgonenergie-Niveau aufrechterhalten können und der Traum strukturiert ständig von neuem das, was wir Wirklichkeit nennen. Ohne diese sozusagen „organische Psychotherapie“ würden wir buchstäblich verrückt werden.
Schwieriges Thema. Ich setze in Teil 3 nochmals an…
[Diese Reihe soll zur Auseinandersetzung mit Bernd A. Laskas LSR-Projekt animieren.]
Bernd A. Laskas LSR-Projekt (www.lsr-projekt.de) versucht dingfestzumachen, warum sowohl die Reaktionäre als auch, was noch wichtiger ist, die Progressiven drei Geistesgrößen zu „Parias des Denkens“ machten: LaMettrie, Max Stirner und Reich. Ihre Gegenspieler waren jeweils Diderot, Marx und Freud. Laska versucht, die Differentia specifica zu identifizieren. Diese drei Parias waren die einzigen, die konsequent gegen das Über-Ich (die verinnerlichten lebensfeindlichen gesellschaftlichen Normen) und für die Kinder der Zukunft eintraten. Das Antisoziale, das sowohl von der Reaktion als auch den vermeidlichen Progressiven mit moralischem Furor bekämpft wird, wird eben erst durch die „moralische Erziehung“ der Kinder hervorgerufen! Diese grundsätzliche Einigkeit von „L und S und R“, ist viel bedeutsamer als ihre Unterschiede. Das gleiche gilt für die Unterschiede etwa zwischen Marx und Freud. Das bedeutet auch, daß keiner der genannten den folgenden direkt beeinflußt haben, mal abgesehen von Reichs Lektüre von Stirners Der Einzige und sein Eigentum.
Reich „gehörte einfach nicht dazu“, weder zu den Psychoanalytikern noch zu den Marxisten, und der „Freudo-Marxismus“ verkörpert das genaue Gegenteil von Reichs Kernbotschaft. (Man betrachte nur den heutigen Triumphzug des „Kulturbolschewismus“!) Und tatsächlich wurde er nicht nur als Psychoanalytiker von Freud selbst abgelehnt, sondern auch als Marxist von allen Fraktionen des Marxismus: den Kommunisten, den Sozialdemokraten (siehe Bernfelds „Gegenartikel“: „Reich ist kein Marxist!“) und den Marxistischen Talmudisten, beispielsweise Erich Fromm: „Reich ist kein Marxist!“
Und was ist mit dem Orgon. Gibt es da nicht jede Menge naturphilosophische Vorgänger? Nun, die Entdeckung des Orgons ist etwas grundsätzlich anderes als die zahllosen Spekulationen über einen „Urgrund“ und ähnlichem! Viel wichtiger sind zwei andere Vordenker Reichs, die mit ihrer grundsätzlichen Herangehensweise die Entdeckung des Orgons vorbereiteten:
Reich waren seine beiden Vorstreiter LaMettrie und Stirner durch F.A. Langes Geschichte des Materialismus ein Begriff. Was lernte Reich von dem Neu-Kantianer Lange? Langes Buch ist eine Kritik des Materialismus, insbesondere von dessen mechanistischer Betrachtungsweise des biologischen und „geistigen“ Lebens. Lange kritisierte den atomistischen Ansatz: mit Teilchen im leeren Raum kann man Leben und insbesondere das „innere Erleben“ (Seele, Bewußtsein) nicht erklären. Es muß „etwas“ geben, das die Leere zwischen den Atomen aufhebt, ein Kontinuum herstellt. Wir können beispielsweise Legosteine so lange und kompliziert zusammenfügen, wie wir wollen, es wird nie ein lebendes, gar sich seiner selbst bewußtes Wesen dabei herauskommen.
Genau diesem „Bindeglied“ jenseits aller Mechanik ist Henri Bergson nachgegangen, der Reichs Denken entscheidend beeinflußt hat.
Reichs funktioneller Denkansatz wurde durch den „Dialektischen Materialismus“ vorbereitet. Dieser geht auf Hegels „idealistische Dialektik“ zurück. Hegel kannte auf eine sehr abstrakte Weise die gleichzeitige funktionelle Gegensätzlichkeit und Einheit. Im ersten Teil seiner Wissenschaft der Logik schrieb er: Der Anfang ist nicht reines Nichts, sondern ein Nichts, aus dem etwas hervorgehen soll. Das Sein ist also auch im Anfang. Der Anfang umfaßt sowohl Sein als auch Nichts: er ist die Einheit von Sein und Nichts. Die Gegensätze, Sein und Nichts, sind also am Anfang in unmittelbarer, undifferenzierter Einheit. Die Analyse des Anfangs macht also den Begriff der Einheit von Sein und Nicht-Sein, oder in reflektierter Form die Einheit des Verschiedenen und des Nicht-Unterschiedenen, oder die Identität von Identität und Nicht-Identität.
Hier Hegel im Wortlaut:
Der Anfang ist nicht das reine Nichts, sondern ein Nichts, von dem etwas ausgehen soll; das Sein ist also auch schon im Anfang enthalten. Der Anfang enthält also beides, Sein und Nichts; ist die Einheit von Sein und Nichts; – oder ist Nichtsein, das zugleich Sein, und Sein, das zugleich Nichtsein ist.
Ferner Sein und Nichts sind im Anfang als unterschieden vorhanden; denn er weist auf etwas Anderes hin; – er ist ein Nichtsein, das auf das Sein als auf ein Anderes bezogen ist; das Anfangende ist noch nicht; es geht erst dem Sein zu. Der Anfang enthält also das Sein als ein solches, das sich von dem Nichtsein entfernt oder es aufhebt, als ein ihm Entgegengesetztes.
Ferner aber ist das, was anfängt, schon, ebensosehr aber ist es auch noch nicht. Die Entgegengesetzten, Sein und Nichtsein sind also in ihm in unmittelbarer Vereinigung; oder er ist ihre ununterschiedene Einheit.
Die Analyse des Anfangs gäbe somit den Begriff der Einheit des Seins und des Nichtseins, – oder in reflektierter Form, der Einheit des Unterschieden- und des Nichtunterschiedenseins, – oder der Identität der Identität und Nichtidentität. Dieser Begriff könnte als die erste, reinste d.i. abstrakteste, Definition des Absoluten angesehen werden (…). (Wissenschaft der Logik, Zweite Auflage 1841, S. 63f, Werke in zwanzig Bänden, Bd. 5, Frankfurt: Suhrkamp 1969, S. 73f)
Der Kreis schließt sich, denn wir sind hier bei Stirners „Einzigem“, der seine Sache auf nichts, das Nichts (im Sinne Hegels) gestellt hat.