Posts Tagged ‘Objektbeziehungen’

Das Aufkommen des Psychopathen (Teil 16)

19. Mai 2021

von Dr. med. Dr. phil. Barbara G. Koopman

Alle oben diskutierten Missstände stellen keine sexuelle Freiheit mit Verantwortung dar, sondern Zügellosigkeit. Die Unterdrückung wird aufgehoben – nicht was den Ausdruck von Genitalität betrifft –, sondern hinsichtlich der Explosion aller möglichen prägenitalen Manifestationen, den Sadismus, die sekundären Triebe, die Perversion, die Inversiong usw. Die gelockerte und defekte Ich-Struktur, die ein solches soziales Umfeld fördert, erweist unseren beeinflussbaren, heranwachsenden Generationen einen großen Bärendienst. Sie zerstört ihre Fähigkeit zu wahrem sexuellen Glück und erzeugt einen Zustand unerträglicher Spannung.

Der weit verbreitete Drogenmissbrauch ist ein weiterer alarmierender Auswuchs der kontaktlosen Permissivität, die einen Freibrief darstellt. Der freimütig Süchtige entspricht gemeinhin einer voll ausgeprägten Charakterstörung mit vielen der Merkmale, die Reich in seiner Studie über den Triebhaften präsentiert hat. Er zeigt eine „außerordentliche Regression“, wie Fenichel (7) es ausdrückt, und die Libido bleibt eine „sehr diffuse Mischung aus prägenitalen Spannungen“. Genitaler Sex ist für ihn uninteressant, aber die Droge erfüllt ein tiefes und primitives Verlangen, das bei den meisten dieser Menschen dringender empfunden wird als sexuelles Verlangen. Er ist hauptsächlich oral und hauterotisch. Daher wird die Droge als Nahrung und Wärme empfunden und bietet auch eine außergewöhnliche Erhöhung des Selbstwertgefühls, die eng mit dem Hochgefühl des Manisch-Depressiven verbunden ist. Die Objektbeziehungen sind dürftig und die Objekte werden als Versorgungslieferanten gesehen. Es besteht eine außergewöhnliche Intoleranz gegenüber Spannungen.

Neben dem von harten Drogen Abhängigen gibt es viele, die die sogenannten „weichen Drogen“ konsumieren. Unter den jungen Menschen in den Städten zeigen die Zahlen eine erschütternde Zunahme von Konsumenten in einem relativ kurzen Zeitraum. Die gesellschaftliche Einstellung ist besonders freizügig, was den Konsum von Marihuana angeht und es gibt eine „Hasch-Lobby“, die sich für seine Legalisierung einsetzt. Selbst wenn es keine anderen Einwände dagegen gäbe, sollte die psychologische Wirkung auf den jungen Teenager nachdenklich machen. Damit der Reifungsprozess stattfinden kann, müssen diese Jugendlichen Bewältigungsmechanismen und Problemlösungstechniken für den Umgang mit den harten Realitäten des Lebens entwickeln. Marihuana, indem es die Angst auflöst, verhindert die Ausarbeitung solcher Lebenskompetenzen zu einem äußerst kritischen Zeitpunkt ihrer Entwicklung, wenn sie diese Fähigkeiten am notwendigsten entwickeln müssen. „Aussteigen“ statt etwas Meistern und ein Ziel verfolgen wird zum Lebenswandel, und sie bleiben infantil, ausgerichtet auf die angenehme Befriedigung des Augenblicks, unberührt von jeglichem Verantwortungsbewusstsein für ihr Schicksal. Diejenigen mit einer ungeordneten und defekten Ich-Struktur sind natürlich am meisten geneigt, diesen Ausweg zu wählen, da sie von einer inneren Spannung bestürmt werden, die sie nicht bewältigen können. Die Verdrängungsmechanismen sind defekt und die Struktur zu unreif für die befriedigende Auflösung der Spannung.

Auch in energetischer Hinsicht sind die Wirkungen aller Psychedelika – einschließlich Hasch – sehr schädlich. Ich habe dies an anderer Stelle ausführlich besprochen (8), möchte hier aber nur darauf hinweisen, dass die Einnahme jeglicher Psychedelika eine diffuse Weitung des Orgon-Energiefeldes verursacht, die an die des Schizophrenen erinnert. Der Begriff „abgedriftet“ ist hier tatsächlich zutreffend. Das Endresultat ist ein geselliger „Pseudokontakt“, für den energetisch sensiblen Beobachter ist die Person jedoch einfach nicht im Raum. Der Süchtige wird zu einer Art losgelöstem Beobachter, abgeschnitten von jeglicher Resonanz mit dem Feld der anderen Person. (Damit irgendeine Art von Kontakt zwischen zwei oder mehreren Personen stattfinden kann, müssen ihre Energiefelder interagieren und in Resonanz treten.) Da Psychedelika eine kumulative Wirkung haben (die aktive Komponente in Marihuana bleibt etwa acht Tage im System), hält das Individuum den Zustand der Kontaktlosigkeit viel länger aufrecht als bei natürlich induzierten veränderten Bewusstseinszuständen1 und wahrscheinlich außerdem mit chemischer Beeinträchtigung des Gehirns und anderer Gewebe. (Dies wird noch untersucht.)

Anmerkungen

1 Während die meisten Menschen veränderte Bewusstseinszustände tolerieren und sogar davon profitieren können, z.B. bei der Parasympathikotonieh, die mit der Biofeedback-Kontrolle der Alpha-Gehirnwellen einhergeht, ist bei Borderline-Psychotikern selbst hier Vorsicht geboten, da sie die Auflösung ihrer Ich-Grenzen durch solche Techniken nicht aushalten. Um wie viel anfälliger sind sie dann für Psychedelika!

Anmerkungen des Übersetzers

g Sexuelle Inversion ist ein Begriff, der von Sexualwissenschaftlern verwendet wird, vor allem im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, um sich auf Homosexualität zu beziehen. (Wiki)

h Parasympathikotonie, Verschiebung des Gleichgewichts im vegetativen Nervensystem zugunsten des Parasympathicus (erhöhter Parasympathikotonus). Da der Vagus den wichtigsten Anteil des Parasympathicus darstellt, wird sie auch als Vagotonie bezeichnet. Kennzeichen sind langsamer Puls, niedriger Blutdruck, gesteigerte Sekretion der Drüsen und erhöhter Tonus der glatten Muskulatur im Magen-Darm-Trakt und in den Bronchien. [spektrum.de]

Literatur

7. Fenichel, 0.: The Psychoanalytic Theory of Neurosis. New York: W. W. Norton, 1945

8. Koopman, B. G.: „Mind-Expanders – Peril or Pastime?“ Journal of Orgonomy, 3:213-25, 1969

[Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Charles Konia.
Journal of Orgonomy, Jahrgang 7 (1973), Nr. 1, S. 40-58.
Übersetzt von Robert Hase]

Das Aufkommen des Psychopathen (Teil 13)

13. Mai 2021

von Dr. med. Dr. phil. Barbara G. Koopman

Ein eher kontroverses Gebiet ist die Frage der Nacktheit von Erwachsenen. Meine persönliche Meinung, basierend auf den Beschwerden und Fantasien von Kinderpatienten im Laufe der Jahre, ist, dass auch dies eine Erregung erzeugt, die zu viel für die Energiekapazität des Kindes ist. Ich hatte erhebliche Schwierigkeiten mit verführerischen, hysterischen Müttern mit unbewussten exhibitionistischen Tendenzen, die darauf beharren, sich nackt oder leicht bekleidet vor ihren Söhnen zu zeigen. Sie beteuern, dass das alles „natürlich“ sei und haben keine Einsicht in ihre eigene unbewusste Motivation oder die daraus resultierenden neurotischen Symptome der Kinder. Ich weiß nicht, wie schädlich die Nacktheit von Erwachsenen in einer vollkommen gesunden Gesellschaft von ungepanzerten Eltern und Kindern wäre; vielleicht wäre sie bei einer geordneten Libidoökonomie ganz natürlich und harmlos und diese Verhaltensweisen wären wirklich unbedenklich. Es mag von Interesse sein, dass die Trobriander (die nach Reichs Ansicht eine der sexuellen Gesundheit nahestehende Gesellschaft verkörperten) Nacktheit nicht ermutigten, es sei denn, es gibt einen funktionellen Grund dafür, wie etwa das Baden (5). Auch bei den Trobriand-Insulanern wurde die Privatsphäre im Zusammenhang mit Körperpflege peinlich genau eingehalten. Ich glaube, dies ist ein weiterer Bereich, in dem unsere fehlgeleiteten Modernisten schmerzlich sündigen.

Die oben genannten neurotischen Praktiken stehen in scharfem Kontrast zu den Grundprinzipien der Selbstregulierung, deren Eckpfeiler das Recht von Kindern und Jugendlichen auf ein gesundes, altersgerechtes Sexualleben ist. Unter solchen Verhältnissen unterdrückt man den Sexualtrieb bei Kindern nicht: Stauung und Panzerung entstehen nicht; der ödipale Wunsch bleibt uninteressant und ohne Verlangen; die Energie kann frei über bestmögliche entwicklungsbedingte Wege in Richtung der Reifung des Ichs, der Kreativität und der Fähigkeit zu guten Objektbeziehungen fließen.

In einer gepanzerten Gesellschaft ist die Situation selbst bei einfühlsamen Eltern nicht so einfach. Gepanzerte Eltern neigen dazu, gepanzerte Kinder zu produzieren. Dies ist wahrscheinlich auf die unbewussten Einstellungen der Eltern zurückzuführen, über die sie keine Kontrolle haben und die sich wiederum nicht nur in ihrem Verhalten, sondern auch in ihren Energiefeldern widerspiegeln. Letztere werden in den Bereichen der Panzerung unweigerlich geschwächt und geschrumpft sein. Das Feld des Kindes, das über einen langen Zeitraum mit den elterlichen Feldern in Resonanz steht, spürt zweifellos die Bereiche der Kontraktion und kann sich in den korrespondierenden Bereichen seines eigenen Feldes zusammenziehen. Ich habe dies sogar bei kleinen Babys mit sehr wohlmeinenden Eltern gesehen. Dennoch sagt mir mein Gefühl, dass die Erziehung der Eltern zu einer gesunden Kindererziehung dazu beitragen kann, eine Generation hervorzubringen, die weniger gepanzert ist als ihre Vorfahren, und so weiter, bis eine relativ gesunde Gesellschaft entsteht, die auf sexualökonomischen Prinzipien beruht.

Literatur

5. Malinowski, B.: The Sexual Life of Savages. New York: Harcourt, Brace & WorId, 1929

[Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Charles Konia.
Journal of Orgonomy, Jahrgang 7 (1973), Nr. 1, S. 40-58.
Übersetzt von Robert Hase]

Das Aufkommen des Psychopathen (Teil 8)

30. April 2021

von Dr. med. Dr. phil. Barbara G. Koopman

Energetisch gesehen kann eine solche Triebhaftigkeit, wenn ihr freier Lauf gewährt wurde, nicht mehr vollständig eingedämmt werden. Schwere Defekte in der Ich-Entwicklung sind die Folge. Und wir wissen aus Reichs späteren Arbeiten, dass die ungezügelte Entladung sekundärer Triebe ökonomisch gesehen mehr Spannung erzeugt als sie löst. Daher das unerträgliche innere Bombardement und das unaufhörliche Ausagieren. Wie Reich später feststellte, stellt die amorphe Charakterstruktur des Triebhaften das genaue Gegenteil von Panzerung dar. Die Triebe, insbesondere die sadistischen, werden nicht durch Reaktionsbildung gehalten, sondern als Abwehr gegen die Triebe selbst und die imaginäre Gefahr, die von den Trieben ausgeht, verwendet.

Der Triebhafte ist durch Extreme und Exzesse gekennzeichnet. Die Symptome sind grotesk, wobei im Verhalten unverhüllte, primitive Triebe zum Ausdruck kommen. Ein solches Verhalten wird von dem Patienten nicht als Krankheit angesehen, außer in seltenen Momenten der Einsicht. Er ist oft sehr lebhaft und bizarr in seiner Art, sich mit der Außenwelt auseinander zu setzen. Unverhohlene Perversionen, insbesondere sadomasochistische, sind häufig. Der Inzestwunsch ist meist bewusst.

Ein hoher Grad an Ambivalenz ist nach Reich der Regelfall und weist folgende Merkmale auf: stetiger Hass auf und Angst vor den Bezugspersonen; uneingeschränkte Triebhaftigkeit, gelegentlich verstärkt durch Unnachgiebigkeit; ungestillte Sehnsucht nach Liebe, dem Hass in gleicher Intensität entgegensteht; eine ausgeprägte Liebesunfähigkeit. Im Gegensatz zu Zwangshaften verlagern diese Patienten ihre Ambivalenz nicht auf Ersatzobjekte, sondern behalten das ursprüngliche Objekt im vollen Bewusstsein.

Um den Triebhaften besser begreifen zu können, hat Reich das Über-Ich eingehend studiert. Im analytischen Sinne ist das Über-Ich die Inkorporation der moralischen Vorschriften (normalerweise der Verbote) der Eltern. Seine Hauptfunktionen haben mit der Billigung oder Missbilligung von Handlungen auf der Grundlage der eigenen Vorstellung von richtig oder falsch, mit Selbstkritik, Selbstbestrafung, Sühne und Reue sowie Selbstbestätigung für gutes Verhalten zu tun (3). (Die populäre Vorstellung von der Stimme des Gewissens ist eine stark vereinfachte Version davon.) Sie entwickelt sich durch einen Prozess der Identifikation, der seine Vorläufer in der frühesten Phase der Bildung von Objektbeziehungen hat. In diesem Stadium wird der Prozess als Inkorporation bezeichnet und das Modell ist eines der oralen Aufnahme. Dies muss sich im Rahmen einer guten Bemutterung entfalten, wenn sich das Individuum auf gesunde Weise entwickeln soll. Reich war der Meinung, dass diese frühesten Identifikationen von wesentlicher Bedeutung dafür sind, wie das Kind den Ödipuskonflikt und spätere Wechselfälle des Lebens verarbeitet.

Literatur

3. Brenner, C.: An Elementary Text-book of Psychoanalysis. Garden City, N.Y.: Doubleday Anchor, 1957

[Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Charles Konia.
Journal of Orgonomy, Jahrgang 7 (1973), Nr. 1, S. 40-58.
Übersetzt von Robert Hase]

Das Aufkommen des Psychopathen (Teil 7)

28. April 2021

von Dr. med. Dr. phil. Barbara G. Koopman

In Der triebhafte Charakter untersuchte Reich die Genese dieser Störung sehr detailliert anhand von Fallgeschichten seiner klinischen Patienten. Zu dieser Zeit (1925) bewegte er sich noch innerhalb des psychoanalytischen Rahmens (wenngleich in der Monographie bereits Andeutungen seiner Abkehr erkennbar sind). So sind, erklärt der junge Reich, Triebunterdrückung und Sublimierung die Eckpfeiler der Kultur. Das infantile Lust-Ich muss eine Versagung erfahren, damit Reifung stattfinden kann. Damit einher geht die Etablierung der Realitätsprüfung und die Bildung von Objektbeziehungen. Aber jede Versagung führt zu einer Aufspaltung der libidinösen Energie. Einem Säugling die Brust anzubieten und sie ihm dann wieder zu entziehen stellt zum Beispiel die Dualität von Triebbefriedigung und Triebverweigerung dar – das früheste Modell für Ambivalenz. (Zu dieser Zeit wurde allgemein angenommen, dass ohne Ambivalenz keine psychische Entwicklung stattfinden könne.) Reich schlug vier mögliche Verläufe der Ambivalenz vor, wobei alle bis auf den ersten zu einem pathologischen Ergebnis führen:

1. Bei einer liebevollen Bezugsperson erfährt der Säugling partielle Triebbefriedigung und partielle Versagung und entwickelt dadurch allmählich eine gewisse Fähigkeit zur Verdrängung. Das Kind kann die Versagung aufgrund seiner Liebe zur Bezugsperson tolerieren; die partielle Verdrängung lässt anschließend Raum für die Ersatzbefriedigung des Triebes.

2. Das Kind erfährt gleich zu Beginn eine vollständige (und nicht nur allmähliche) Triebfrustration, z.B. durch harte Entwöhnung oder totale Einschränkung der Masturbation. Dies führt zu einer totalen Verdrängung, wobei die Ambivalenz den Hass bevorzugt. Die Fähigkeit zur Liebe ist stark beeinträchtigt und es entsteht ein zwanghafter Charakter.

3. Im frühesten Stadium besteht eine völlige Abwesenheit von Triebfrustration. Das Kind wächst z.B. ohne Aufsicht und mit uneingeschränkter Triebbetätigung auf, nur um später im Leben in einen schweren Konflikt mit der Umwelt zu geraten. Vor einem solchen Hintergrund entstehen die kriminellen Typen.

4. Einer ausgiebigen frühen, uneingeschränkten Triebbefriedigung steht eine plötzliche, verspätete Triebfrustration brutaler, traumatischer Natur gegenüber. Daraus entsteht der Triebhafte, der in der Regel eine Vorgeschichte von unbeständiger Erziehung besitzt und früh der Sexualität von Erwachsenen ausgesetzt ist.

Beim Triebhaften wird die Sexualität in einem abnorm frühen Stadium stimuliert und ausgelebt. Dies ist nicht zu verwechseln mit dem Selbstregulationsansatz, der den Ausdruck der kindlichen Sexualität auf einem altersgemäßen (und energetisch angemessenen) Niveau zulässt. Aus den Fallgeschichten wird ersichtlich, dass Reichs triebhafte Patienten ein pornografisches sexuelles Umfeld erlebten, in dem die Betreuer oder Außenstehende Überstimulation offerierten und sexuellen Missbrauch, einschließlich Inzest, ausübten. Sie waren folglich sexuell sehr überladen und überstimuliert. Von gesunder Genitalität konnte hier aber keine Rede sein, sondern eher von einer Eruption prägenitaler Triebe und polymorph-perverser Neigungen.

[Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Charles Konia.
Journal of Orgonomy, Jahrgang 7 (1973), Nr. 1, S. 40-58.
Übersetzt von Robert Hase]

Das Aufkommen des Psychopathen (Teil 2)

17. April 2021

von Dr. med. Dr. phil. Barbara G. Koopman

Die Rolle der blockierten Energie bei der Entstehung von Neurosen ist von Reich ausführlich behandelt worden. Ich möchte hier nur einige Grundbegriffe streifen, um zu verdeutlichen, was ich als neuzeitliche Entwicklung betrachte.

Der Leser wird sich daran erinnern, dass die sexuelle Zwangsmoral zu sexueller Unterdrückung im Rahmen der patriarchalischen Familie führt. Freuds Libidotheorie wirft ein beträchtliches Licht auf diesen Prozess. Nach Freud kommt jedes Individuum mit einem bestimmten Quantum an psychischer Energie auf die Welt. Zunächst ist es eine rein „narzisstische“ Energie, die sich ganz auf das Selbst konzentriert. Nach und nach greift diese Energie wie die Pseudopodien einer Amöbe aus und bindet sich an die Welt der Objekte (oder, strenggenommen, an ihre „mentalen Repräsentationen“). Wenn der Prozess einigermaßen erfolgreich ist, entwickelt die Person die Fähigkeit zu zufriedenstellenden Objektbeziehungen. Dies geht Hand in Hand mit einer gewissen Reifung und Integration des Ichs. Manche Menschen kommen nie weit über dieses Stadium des Narzissmus hinaus und ihre Objektbeziehungen verharren zusammen mit ihrer Ich-Struktur auf einer primitiven, prägenitalen Stufe.

Im Verlauf der Ich-Entwicklung muss sich die psychische Energie durch verschiedene erogene Zonen bewegen – oral, anal, phallisch und genital – von denen jede ihre eigenen charakterologischen Merkmale aufweist. Jede Fixierung oder Regression von Energie in den ersten drei Zonen wird die Persönlichkeit ihren Stempel aufdrücken und ein bestimmtes Quantum psychischer Energie binden – das dem Ich nun mehr nicht mehr zur Verfügung steht und zu einer Einschränkung führt. Wenn sich die Person normal entwickelt, bewegt sich die Energie auf natürliche Weise von einem Stadium zum nächsten, ohne gebunden zu werden, und das genitale Primat wird erreicht. Das Genital wird zum Hauptkanal für die Entladung der sexuellen Energie. Jegliche prägenitalen Restmengen werden im Vorspiel abgebaut und bleiben nicht dem Charakter eingeprägt. Das genitale Primat signalisiert die vollständige Reifung des Ich.

Dieser Prozess der Ich-Entfaltung wird von der Charakterstruktur der Eltern bzw. Elternsurrogate zutiefst beeinflusst und ist durch Krisen von Realitätsprüfungen, drohenden oder realen Verlusten und Trennungen, Bewältigungs- und Identifikationskonflikten usw. geprägt, die schließlich in der ödipalen Krise (im Alter von vier Jahren) gipfeln. Wie mit diesen Wechselfällen umgegangen wird, bestimmt die letztendliche Persönlichkeit. Freud und Reich divergieren darin, wie sie gehandhabt werden sollen. Selbstregulierung, nicht sexuelle Unterdrückung, war Reichs Antwort auf das Problem, gesunde Kinder aufzuziehen.

Um den Unterschied zu würdigen, betrachten wir das klassische Konzept der Verdrängung als einen Abwehrmechanismus, bei dem das Ich den verbotenen Trieb oder eine seiner Abkömmlinge bzw. Fantasien vom Bewusstsein ausschließt. Sobald dies geschieht, wird der Originaltrieb aus dem Bewusstsein verbannt, als hätte es ihn nie gegeben. Er hat jedoch weiterhin eine eigene energetische Existenz und drängt weiter auf Entladung. Um dies zu verhindern, verbraucht das Ich viel Energie bei dem als Gegenbesetzung bekannten Prozess. Es gibt einen dynamischen Widerstand, den Trieb außen vor zu halten und das Ich zahlt den Preis für die „gebundene“ Energie und einen eingeschränkten Reaktionsspielraum. Zunächst kommt es zur Symptombildung, aber, wie Reich betonte, führt die Schichtung von blockierten Trieben und den Gegenbesetzungen schließlich zu einem sehr aufwändigen Überbau, den er als Charakterpanzerung bezeichnete. Der somatische Ort der Panzerung spiegelte das Entwicklungsstadium wider, in dem die Verdrängung erfolgt ist.

[Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Charles Konia.
Journal of Orgonomy, Jahrgang 7 (1973), Nr. 1, S. 40-58.
Übersetzt von Robert Hase]

David Holbrook, M.D.: RASSISMUS, RECHTS UND LINKS / BORDERLINE-POLITIK / „INFLAMMATORISCHE POLITIK“ / GEWISSHEIT UND UNSICHERHEIT / WAHRHEIT UND ZWANG

15. September 2020

 

DAVID HOLBROOK, M.D.:

 

Rassismus, rechts und links

 

Borderline-Politik: Wer hat das „heiße Eisen“?

 

„Inflammatorische Politik“

 

Eine Haltung der Gewißheit ist oft eher ein Zeichen defensiver Unsicherheit als von Weisheit

 

Wahrheit und Zwang