Posts Tagged ‘Charakteranalyse’

Warum ausschließlich das AMERICAN COLLEGE OF ORGONOMY? (Teil 1)

11. September 2025

Die Orgonomie ist eine Wissenschaft und von daher weder an Institutionen noch an irgendwelche akademischen Titel oder Diplome gebunden. Reich hat aber auch eine psychotherapeutische Schule begründet, die Biopsychiatrie. Und hier ist es nicht anders als etwa bei Autowerkstätten, wo man ja auch nicht zu beliebigen Leuten hingeht, die „sich irgendwie mit Autos auskennen“, sondern sich ausschließlich an lizensierte Meisterbetriebe wendet, um etwa das Bremssystem überprüfen oder gar richten zu lassen. Da gibt es zwar auch keine hundertprozentige Garantie, daß alles richtig gemacht wird, aber immerhin wird die Fahrt von der Werkstatt zurück nach Hause nicht zu einem unkalkulierbaren Himmelfahrtskommando.

Als Reich sich kurz vor dem ORANUR-Experiment dafür entschied, seine Aktivitäten ganz nach Orgonon zu verlagern und sich auf die naturwissenschaftliche Forschung zu konzentrieren, gab er die Verantwortung für die Ausbildung in Orgontherapie aus der Hand und übertrug sie seinem Schüler Elsworth F. Baker, der diese Funktion ununterbrochen bis zu seinem Tod 1985 ausübte, die zu diesem Zeitpunkt an Charles Konia überging. Reich wählte Baker, der 1968 mit seinen mittlerweile ausgebildeten Schülern das „Amerikanische Kollegium der Orgonomie“ gründen sollte, aus, weil er als einziger von Reichs Schülern ausgebildeter Psychiater in gehobener Position war und eine fundierte psychoanalytische Ausbildung abgeschlossen hatte, so daß seine Hinwendung zur Orgontherapie Hand und Fuß und vor allem Gewicht hatte. Er verzichtete auf eine bequeme Karriere im medizinischen Establishment! Außerdem betrachtete Reich ihn von seiner Charakterstruktur her am geeignetsten. Am bemerkenswertesten war wohl Bakers vollkommen freies Augensegment.

Reich selbst hatte die Orgontherapie erst vor kurzem entwickelt. Tatsächlich erschien die Beschreibung der sieben Panzersegmente erst in der dritten amerikanischen Ausgabe der Charakteranalyse 1949! Entsprechend hatte Reich, der selbst noch „im Schwimmen war“, seine Schüler nie sonderlich gründlich ausgebildet. Das beste Beispiel ist Baker selbst, dem Reich 1946 bereits nach sechs Wochen seiner eigenen Therapie erlaubte, selbst Patienten orgontherapeutisch zu behandeln. Das waren sozusagen die wilden Jahre der Orgonomie; genauso wie noch Anfang der 1920er Jahre, als Reich als Therapeut anfing, die sich immer noch formierende Psychoanalyse nach wie vor sich in ihren „wilden Jahren“ befand und von geregelter psychoanalytischer Ausbildung keine Rede sein konnte. Hier ist Reich selbst das beste Beispiel! Das änderte sich erst im Verlauf der 1920er Jahre, nicht zuletzt aufgrund der Arbeit Reichs am „technischen Seminar“ in Wien.

Ob in den „wilden Jahren“ der Psychoanalyse (etwa 1900 bis 1925) und der Orgonomie (etwa 1935 bis 1950) wirklich kompetente Therapeuten ausgebildet wurden, war mehr oder weniger Glückssache, zumal während dieser Zeiten jeweils teilweise sogar Nichtmediziner zugelassen wurden. Noch heute hat man ab und an mit mittlerweile sehr alten Orgontherapie-Patienten zu tun, die manchmal ziemlich konfus wirken, so als sei zwar ihr Biosystem dramatisch „aktiviert“, dabei jedoch vor allem das Augensegment sträflich vernachlässigt worden, da ihre „Orgontherapeuten“ nicht wirklich wußten, was sie taten. Wahrscheinlich waren diese Patienten auch falsch, wenn überhaupt, biopsychiatrisch diagnostiziert und entsprechend in einen Zustand allgemeiner bioenergetischer Konfusion versetzt worden.

Bis heute ist am American College of Orgonomy das Feintuning in Sachen Diagnose und Therapie nicht abgeschlossen. Beispielsweise wurde immer deutlicher, daß die Diagnose einer „Schizophrenie“ (im biopsychiatrischen Sinne, nicht im Sinne der mechanistischen Psychiatrie!) weitaus häufiger angebracht ist, als noch zu Bakers Zeiten angenommen. Hinzu kommt der grundlegende Wandel von der autoritären zur antiautoritären Gesellschaft, die heute eine ganz andere orgontherapeutische Herangehensweise verlangt als noch bis in die 1980er Jahre hinein.

Es ist der reine Horror, daß es heute, teilweise sogar mehr denn je, Individuen und sogar ganze vermeintlich „orgonomische“ Organisationen gibt, die immer noch so agieren, als wäre die Orgonomie nach wie vor in ihren „wilden Zeiten“ und als könne man Patienten nach dem überkommenen Schema F behandeln. Resultat können bestenfalls immer neue Patientengenerationen sein, die einfach „daneben“ sind, einem ständig auf die Nerven gehen, sich aber einbilden „durchtherapiert“ zu sein, weil sie innerlich irgendwelche aufregenden Erlebnisse verbuchen können. Einen richtigen Orgontherapie-Patienten erkennt man an seinen freien, tiefen Augen, seiner unprätentiösen Lebendigkeit und seiner, im besten Sinne des Wortes, „Normalität“. Er kann„versprechen, d.h. bioenergetische Spannung aushalten und deshalb in den Bereichen Liebe, Arbeit und Wissen seinen individuellen Möglichkeiten entsprechend produktiv ein. Er ist ein „Mensch“ im Sinne des Jiddischen, kein „bioenergetischer Freak“!

Im Jiddischen bezeichnet das Wort „Mensch“ eine Person von Integrität, Ehre, Anstand und noblem Charakter, d.h. eine Person, die nachgeahmt werden sollte. Ein „echter Mensch“ ist jemand, der mit Ehrlichkeit handelt, Respekt zeigt, Mitgefühl hat und das Richtige tut, auch wenn es ihm Nachteile bringt. Mit anderen Worten: er ist das exakte Gegenteil des Kleinen Mannes!

Mißverständnisse in der Orgontherapie

7. März 2025

Nach Reichs Tod beruhten die Schismen der Orgonomie immer nur auf einem Faktor, da es inhaltlich, jedenfalls in den Basics, keine wirklichen Differenzen gibt. Wie auch? Dieser Faktor ist die Orgontherapie. Das begann schon damit, daß Reich selbst aus Zeitmangel kaum jemanden richtig therapiert hat und am Ende eine Art Schnelltherapie ausprobierte. Er betrachtete die damaligen „Orgonomen“ gar nicht als richtige Orgonomen und hoffte auf eine neue Generation von Leuten, die durch den Ausbildungsleiter des Orgone Institute therapiert und ausgebildet werden sollten. Dieser Therapeut war Elsworth F. Baker. Klar, daß sich das Bakers alte Kollegen nicht haben gefallen lassen (Folge war ein folgenschweres Schisma) und daß Baker selbst unter ähnlichen Zwängen stand wie Reich, nämlich das American College of Orgonomie aufzubauen ohne perfektes „Menschenmaterial“ (letztendliche Folge war ein kaum weniger folgenschweres Schisma und wiederholte kleinere Abspaltungen). Das kannst du mit niemand diskutieren, weil jeder Partei ist je nach seinem Therapeuten.

Hinzu kommt, daß die Therapie selbst voller Fallstricke und „Entfremdungspotential“ ist. In der Charakteranalyse geht es darum, das neurotische Gleichgewicht mit verbalen Interventionen ins Wanken zu bringen, so daß sich der Patient langsam aber sicher von seinen „automatisierten Verhaltensweisen“, seiner charakterologischen Panzerung, lösen kann. Zwangscharaktere funktionieren weniger mechanisch, Hysterikerinnen hören mit dem Spiel „Anlocken und dann Weglaufen“ auf, Phalliker werden weicher, etc. Dies erreicht der Orgontherapeut u.a. durch verbale Provokationen, die verhindern sollen, daß das ganze zu einem rein intellektuellen Gespräch („Gesprächstherapie“, „kognitive Verhaltenstherapie“) wird und im Sande verläuft, sondern Gefühlsreaktionen, wirkliche Veränderungen, im Mittelpunkt stehen.

Die Kunst ist es, daß das jeweils vom Patienten auch richtig eingeordnet werden kann. Ansonsten ist es kaum mehr als eine manchmal schlimme Beleidigung, die nur eine zusätzliche seelische Verletzung hervorruft, d.h. der Patient wird noch kränker. Besonders verheerend kann das in der Therapie von Kindern sein, die das ganze tatsächlich als eine Art „Vergewaltigung“ erleben können. Entsprechend kursieren im Netz Gerüchte über sadistische Übergriffe, gar sexuelle Übergriffe gegenüber Kindern, etwa durch den 1979 verstorbenen Orgonomen Albert Ing Duvall. Als Erwachsene kommen sie mit den phantastischsten Anschuldigungen.

Bei Patienten, die als Erwachsene behandelt wurden, erlebt man ältere Damen, die voller Verbitterung darüber berichten, daß ihnen vor Jahrzehnten während einer entscheidenden Therapiesitzung Dr. xyz doch tatsächlich auf den Kopf zugesagt hätte, daß sich niemals ein Mann für sie wirklich interessieren werde. Tatsächlich ging es offensichtlich darum, daß die Patientin endlich aufwacht, wütend wird und ihr Leben als alte Jungfer, für die kein Mann jemals gut genug sein kann, aufgibt. Tatsächlich brannte sich jedoch in ihr Hirn ein: „Ich bin gar keine richtige Frau und kein Mann wird mich jemals wirklich lieben!“ Auf diese Weise wurde die neurotische Lebensweise eher noch verfestigt.

Oder meine eigene Therapie bei Dr. yza, der mir in einer Sitzung mit gewollt verächtlichem Unterton an den Kopf warf, ich würde wie ein Junge wirken. Eine ziemliche Fehlleistung, denn als alter ergrauter Knacker wie ich, fühlt man sich bei so etwas definitiv geschmeichelt! („Oh, ähh, – danke!!“) Aber was, wenn mich niemand für voll nimmt und Frauen mich nicht beachten würden? Potentiell eine neue Traumatisierung! – Theoretisch geht es bei solchen Interventionen natürlich darum, den gepanzerten Status Quo aufzubrechen, die Orgonenergie zu mobilisieren, kann aber unter ungünstigen Voraussetzungen eher zu einer weiteren Immobilisierung führen.

So entstehen gar erschröckliche Geschichten über Orgontherapeuten, auch über Reich selber. Ilse Ollendorff berichtet, daß insbesondere zur Zeit der „Pressekampagne“ in Norwegen in den 1930er Jahren

die negative Übertragung, die Reich als einen der wichtigsten Punkte seiner charakterologischen Therapie ausgearbeitet hatte, zu Schwierigkeiten führte. Er provozierte sie in seinen Patienten, aber wenn sie an der Oberfläche erschien, war es, als ob er diese neue Form des auf ihn gerichtetem Angriffs, zu dem dauernde öffentliche Angriffe hinzukamen, nicht ertragen konnte. Er reagierte darauf, wie es einer von ihnen ausdrückte, indem er „mich in einem solchen Ausmaß niedergeschlagen hat, daß es Jahre dauerte, mich davon zu erholen“. (Wilhelm Reich, S. 72)

Der (schließlich dafür bezahlende!) Patient kann definitiv Opfer einer schlechten, d.h. kontaktlosen Charakteranalyse werden. Kunstfehler, wie sie jedem Arzt in jedem Fachbereich ab und an unterlaufen. Leider kann das im Fall der Orgonomie zu einem regelrechten Krebs werden, der sie von innen her auffrißt: das Ressentiment auf Grund persönlicher Verletzungen… Ohnehin ist das Ressentiment in der Methode angelegt, denn am Anfang sind die Erwartungen hoch („orgastische Potenz“, der Einzug ins Paradies sexueller Erfüllung), die schlichtweg nicht erfüllbar sind.

Humana conditio ex orgonomico prospectu: Stichwort „Der medizinische Orgonom” und folgende

10. Januar 2025

Humana conditio ex orgonomico prospectu: Stichwort „Der medizinische Orgonom“ und folgende

David Holbrook, M.D.: Die Orgonomie über das Denken und seine Beziehung zu den Gefühlen: Das Denken ist nicht nur eine Funktion des Gehirns (Teil 1)

6. November 2024

DAVID HOLBROOK, M.D.:

Die Orgonomie über das Denken und seine Beziehung zu den Gefühlen: Das Denken ist nicht nur eine Funktion des Gehirns

Der neue Prometheus: Christian Fernandes‘ LA METTRIES „TUGENDHAFTE LUST“ – und Mary Shelleys FRANKENSTEIN

14. Oktober 2024

Das große Verdienst von Christian Fernandes ist es, mit seiner bahnbrechenden philosophiegeschichtlichen Studie über die „tugendhafte Lust“ die Orgasmustheorie, Charakteranalyse („Lehre von der Schuldgefühlen“) = Sexualökonomie = Orgonomie neu begründet zu haben, ohne auf Wilhelm Reich rekurrieren zu müssen, der zum Glück (sic!) nur am Rande erwähnt wird, LaMettrie reicht dazu nämlich vollkommen aus. Hier ein beliebiges Zitat aus Fernandes‘ Doktorarbeit:

In einer atheistischen Gesellschaft wären die Sterblichen „ruhig“. „Tranquilles“ bedeutet im Kontext friedlich, frei von der durch Religion kriegerisch gewordenen Natur. Die Religion nimmt im Homme machine genau die Stelle ein, die ein Jahr später im Discours sur le bonheur den Schuldgefühlen zukommt. Die „ruhige und tugendhafte Lust“ der idealen Gesellschaft dort entspricht der Ruhe der Sterblichen in der atheistischen Gesellschaft hier. Sie verhalten sich nicht bösartig, sondern ruhig, friedlich, tugendhaft, weil sie ohne den negativen Einfluß der Religion nur den „spontanen Ratschlägen ihres eigenen Ichs“, ihrer unverfälschten, reinen Natur, den angeborenen Triebfedern, ihrer per se tugendhaften Lust folgen. Für „jede andere Stimme“ sind sie „taub“. Da die Verunreinigung, die Infizierung der Natur durch Einflüsterung „anderer Stimmen“ der Ursprung des Bösen ist, sind sie immun dagegen, eine Neigung zum Bösen zu entwickeln. Anderen zu schaden, kommt für sie nicht infrage. Die von La Mettrie gemeinte Strafe, die auf die Mißachtung jener Ratschläge der Natur folgt, sind persönliches Leid, aber auch ein gesteigertes Aggressionspotential und das schreckliche gesamtgesellschaftliche Unglück, das daraus entsteht.

Daß die Tugend der Weg zum Glück sei, könnte als Gemeinplatz mißverstanden werden. Das Spezifikum La Mettries, die Parallele zur „Moral der Natur“ des Discours préliminaire verbirgt sich in der Aussage, daß diese „Pfade der Tugend“ selbst bereits „angenehm“ sind. Der Weg zum Glück führt also über das Glück selbst, über das dem natürlichen Luststreben Angenehme, nicht über Entsagung, Opfer, Unterdrückung des Eigenwillens. Das Angenehme, das Glück ist mit der Tugend verknüpft. Die Lust selbst ist tugendhaft und begründet das Wohlergehen des Einzelnen sowie der Gesellschaft, weil die Natur des Menschen so beschaffen ist, daß die eigene Lust von der des anderen abhängt und sie daher aus eigenem Antrieb befördert. Darin besteht „das natürliche Gesetz“ der Moral. Wird ihm gemäß erzogen, entsteht der „rechtschaffene Mensch“, auf den man sich verlassen, dem man vertrauen kann. (S. 23f)

Dieses Buch sollte Pflichtlektüre jedes „Reichianers“ sein, denn allzuleicht wird die Beschäftigung mit Reich zur Routine, nur bloßen intellektuelle Geste und zur Gebetsmühle, die ständig „orgonomisch korrektes“ Zeugs absondert. Mit Fernandes‘ nach 300 Jahren erstmaliger Freilegung des Kerns der LaMettrie’schen Philosophie, wurde uns die Chance eines Innewerdens unseres Eigensten möglich gemacht und damit die Chance eines Neuanfangs geboten, sozusagen „Orgonomie ohne Wilhelm Reich“.

Die Ehre LaMettrie (zusammen mit Max Stirner) für die Orgonomie entdeckt zu haben, kommt natürlich Bernd A. Laska zu, doch das beschränkte sich auf die Lehre von den schädlichen Schuldgefühlen = Charakteranalyse = Panzerung = Über-Ich. Daß dies bei LaMettrie (genauso wie bei Wilhelm Reich) mit der Lehre von der tugendhaften Lust = Orgasmustheorie = Sexualökonomie untrennbar verbunden ist, hat (nach ersten Andeutungen bei Laska) erst Fernandes im vollen Umfang gezeigt.

LaMettrie war der „Wilhelm Reich des 18. Jahrhunderts“ und wurde deshalb mit aller Wahrscheinlichkeit auch ermordet. Beide sahen sich jeweils als „neuer Prometheus“, der die Flamme der Wollust bringt und damit gleichzeitig die Zivilisation begründet. Bisher herrscht die bloße Barbarei!

DANKE Bernd A. Laska! DANKE Christian Fernandes! Wenn jetzt noch jemand eine Brücke von LaMettrie nach, keine Ahnung, Luigi Galvanis „animalischer Elektrizität“ oder Franz Anton Mesmers „animalischem Magnetismus“ = Orgonenergie schlägt…

Man erlaube mir dazu einen Anhang, denn mir fällt dazu folgendes ein:

Victor Frankenstein war in Mary Shelleys Roman „der neue Prometheus“ – der so, praktisch in der gleichen Funktion, in La Mettries Der Mensch als Maschine (Laskas Ausgabe, S. 83) auftritt. Seine Maschine bzw. sein „Monster“ wurde durch eine „atmosphärische Lebenskraft“ ins Leben gerufen, zu der Shelley von Galvanis Experimenten und der Praxis des Mesmerismus inspiriert worden war – kurioserweise auch durch die Arbeit von Mesmers Nemesis, Benjamin Franklin, mit Gewitterblitzen. Und drittens: ihr Roman dreht sich, vor dem Hintergrund der Geschichte der Aufklärung seit LaMettrie und der durch Rousseau initiierten Romantik um die tugendhafte Lust bzw. deren Negation.

Was ich meine wird zunächst hier deutlich:

Der Entstehungszeitraum von Mary Shelleys Frankenstein fällt in eine (…) Phase hoher technischer, medizinischer und allgemein naturwissenschaftlicher Fortschrittsdynamik. L’Homme machine des französischen Arztes und Philosophen Julien Offray de La Mettrie scheint ebenso die Zeit zu prägen und die Idee eines Maschinen-Menschen zu beflügeln wie die Erfindung der Elektrizität und die Versuche mit der solchen von Luigi Galvani (Galvanismus).

Und zusätzlich durch folgendes Abstract:

Beeinflußt von Philosophen der Aufklärung wie Rousseau und Smith, feiern romantische Schriftsteller wie Coleridge und Percy Shelley die erhabene Kraft der sympathischen Liebe, die das Selbst und den anderen (sei er menschlich oder unmenschlich) zu einem wundersamen Ganzen verschmelzen läßt und damit die Gefahren der Einsamkeit und des Solipsismus ausschließt. Nicht alle romantischen Schriftsteller teilen jedoch die gleiche sanguinische Sicht der Liebe. In Frankenstein zum Beispiel bietet Mary Shelley eine Alternative zur optimistischen Sichtweise auf die Fähigkeit zur (gegenseitigen) Sympathie. Sie formt den Roman zu einer Geschichte bitterer Einsamkeit, die durch den Mangel an sympathischem Verständnis zwischen Victor und der Natur, zwischen dem Monster und den De Laceys und zwischen dem Monster und seinem Vater Victor verursacht wird. In diesen wechselseitigen Beziehungen, so meine These, beschwört Shelley Elemente der aufklärerisch-romantischen Liebe herauf, nur um deren erhabene Kraft zu widerrufen und sie darüber hinaus in Verzweiflung zu verwandeln. Anstelle der romantischen Freude der transzendenten Fülle ist der Roman von gothic Verzweiflung, der völligen Negation der Erlösung, umhüllt.

Da das Monster nicht liebenswert ist, sich aber nach Liebe sehnt, rastet es aus und wird zum – Monster. „Das Wesen, das [Frankenstein] erschafft, trägt die ganze menschliche Natur in sich. Es verlangt nach Liebe, ist aber physisch nicht liebenswert, und Dr. Frankenstein verweigert ihm jede Möglichkeit der Liebe. Im Gegenzug und aus freiem Willen entscheidet es sich, die Liebesbeziehungen anderer zu zerstören“ (hier). Es ist bezeichnend, wie sehr Mary Shelleys abgründiger Horrorroman über einen „LaMettrie“ (gleichzeitig auch „Anti-LaMettrie“) und die tugendhafte Lust (bzw. die dramatischen Folgenden unterdrückter Lust) seit 200 Jahren die Menschen absolut unwiderstehlich in seinen Bann zieht…

Der Roman ist eine Erzählung über den Maschinenmenschen mit einer „romantischen“ Wendung („Lebenskraft“), über das Schuldgefühl (das Victor zerfrißt und von dem sein namenloses „Monster“ vollkommen frei ist – mit verheerenden Folgen) und nicht zuletzt eine über die „aufklärerisch-romantische Liebe“, die auf LaMettries „tugendhafte Lust“ zurückgeht und die verheerenden Folgen, wenn das Liebesbedürfnis zerstört wird. Victor liebt seinen künstlichen „Sohn“ nicht und tötet dessen künstliche Gefährtin sofort nach deren Erschaffung. Vielleicht lese ich zuviel hinein, aber zu diesem Thema paßt auch etwas, das für einen LaMettrie-Kenner kein Zufall sein kann: daß Victor Frankensteins Romanze mit Elizabeth Lavenza (die aus Rache vom „Monster“ getötet wird), jedenfalls in der ursprünglichen, unveränderten Originalversion des Romans von 1818, inzestuöse Geschwisterliebe war.

Fanatismus und Charakteranalyse

10. Oktober 2024

Mir gefällt Eric Hoffers Idee, daß Fanatismus um seiner selbst willen ist. „Und es ist leichter für einen fanatischen Kommunisten, zum Faschismus, Chauvinismus oder Katholizismus zu konvertieren, als ein nüchterner Liberaler zu werden.“ Ich habe mal von einem deutschen Neonazi gehört, der zum Judentum konvertierte und ein fanatischer Siedler in der Westbank wurde. Da die soziopolitische Orgonomie so sehr auf das soziopolitische Spektrum fixiert ist, wurde dies („Fanatismus um seiner selbst willen“) in der orgonomischen Theorie nie gewürdigt, soweit ich mich erinnere.

Zweifel werden nicht zugelassen und ganz im Gegenteil wird missioniert, d.h. Zweifel in den Glaubenssystemen anderer hervorgerufen. Man setzt sich mit anderen auseinander, aber niemals mit sich selbst. Alles wird in Frage gestellt, nur man selbst stellt sich nie in Frage. In vieler Hinsicht ist das das genaue Gegenteil einer Charakteranalyse, die ja nichts anderes ist, als sich selbst in Frage stellen zu lassen. „Warum lächeln Sie!“ „Warum atmen Sie nicht!“ „Ihr Gesicht ist zu einer Maske erstarrt!“

Soeben habe ich einen typischen Fanatiker beschrieben mit seinem situationsunangebrachten „Lächeln“, der unnatürlichen Verkrampfung oder je nachdem unnatürlichen „Gelassenheit“, dem stereotypen Verhalten und dem maskenhaften Gesicht. Die absolute Hingabe „an die Sache“ oder „an den Führer“ ist nichts anderes als Ersatzkontakt: Verweigerung von und gleichzeitig Ersatz für wirkliche Hingabe.

Das führt zu dem Paradoxon, daß etwa eine dröge und vollkommen kontaktlose, meinetwegen, CDU-Veranstaltung, die letztendlich harmlos ist, bioenergetisch nicht zu vergleichen ist mit einem mitreißenden Reichsparteitag der NSDAP, also der organsierten Emotionellen Pest. Im evangelischen Kirchenkreis muß man gegen den Schlaf ankämpfen, während in einer aus Amerika kommenden charismatischen Glaubensgemeinschaft der Funke überspringt und man ganz und gar für Jesus Christus entflammt ist. Und genau darum geht es, mitgerissen zu werden, sich selbst zu vergessen. Eine Art Drogenrausch. Wie dieser Rausch hervorgerufen wird, ist letztendlich egal.

Daß dabei die Funktionen Liebe, Arbeit und Wissen vor die Hunde gehen, man nicht mehr wirklich lieben kann, zu einem bloßen Roboter wird und nur noch realitätswidrigen Unsinn von sich gibt – gehört zum Konsum der Droge „Fanatismus“. Und genau so endet auch der Fanatismus stets: im Untergang. Eins fehlt nämlich immer: die Selbstreflektion und damit die Möglichkeit zur Selbstkorrektur, das Umsteuern am Rande des Abgrunds. Also das, was die Charakteranalyse letztendlich als Ziel hat: die Wiederherstellung der Selbstregulation.

Jetzt versuche man mal jemanden zu erklären, daß Fanatismus stets ein letztendlich sexualökonomisches Problem ist! Etwa mit Verweis auf die durch und durch spießige, von der CDU geprägte BRD der 1950er Jahre mit all ihrer Nüchternheit, im Vergleich zum Fanatismus im ungleich sexuell freizügigeren „Dritten Reich“ oder dem Fanatismus in der „DDR“, wo noch viele sich ganz und gar mit der sozialistischen Vision identifizierten und die (trotz all des konsumistischen Firlefanzes des Westens) weitaus sexuell freizügiger war als die BRD. Derartige „Widersprüche“ treten auf, weil die Panzerung alles verzerrt. Wie gesagt war beispielsweise eine NSDAP-Inszenierung mit all dem Ersatzkontakt, die sie bot, bioenergetisch weitaus „lebendiger“ als eine ein oder zwei Jahrzehnte spätere der CDU.

Das war bereits 1933 das Thema von Reichs Massenpsychologie des Faschismus: wie schwer es ist, angesichts der Verlockungen des Irrationalismus, den Massen die Rationalität nahezubringen. Später mußte er sich bereits in Skandinavien, insbesondere aber in Amerika mit Libertären, Anarchisten, Freaks, Beatniks etc. und anderen Freiheitskrämern rumschlagen, die zwar „sexuell frei“ waren, aber vollkommen irrational, weil sie keinerlei Sinn hatten für die charakterstrukturelle Freiheitunfähigkeit der Massen, geschweige denn der eigenen – die vollkommene Unfähigkeit zur Selbstreflektion.

In James Reichs neuem Buch Wilhelm Reich and the Flying Saucers findet sich die kurze Korrespondenz zwischen einem Vertreter der genannten Leute, Tuli Kupferberg, der in Dusan Makavejevs Film WR: Mysteries of the Organism eine prominente Rolle spielt, und Reich. Sozusagen Reichs vorweggenommene Antwort auf die „68er“. Zunächst 1949:

Es erfordert ein vollständiges und gründliches Studium der Orgonomie und unserer Art von Massenpsychologie, um zu verstehen, daß die Arbeitsdemokratie ein tatsächlicher bio-sozialer Prozeß und kein politisches Programm ist. Außerdem ist es die universelle Biopathie in den Menschen aller Richtungen und Klassen, die die rein wirtschaftlichen Probleme so ungeheuer kompliziert macht. Die Hauptsache ist, daß unsere heutige Erziehung das Massenindividuum ohne sein Verschulden unfähig oder weniger fähig macht, Verantwortung für seine individuelle und die allgemeine gesellschaftliche Lage zu übernehmen. (S. 177f)

1950 ergänzt Reich: „Es geht immer mehr darum, den Menschen auf Massenmaßstab ihre große Verantwortung für die gesellschaftlichen Prozesse bewußt zu machen.” Selbstreflektion!

Psycho-Nazis

3. September 2024

Die Lebensläufe von Heinrich von Kogerer und Reich haben sich zweimal überschnitten. Kogerer war Assistent des berühmten Wiener Psychiaters und Leiters der Psychiatrisch-Neurologischen Universitätsklinik Julius Wagner-Jauregg. Hier machte Reich seine psychiatrische Facharztausbildung. Interessanterweise gründete Wagner-Jauregg 1922 ein psychotherapeutisches Ambulatorium als direkte Antwort auf das kurz zuvor gegründete psychoanalytische Ambulatorium, an dem sich insbesondere Reich hervortat, siehe etwa sein Buch Der triebhafte Charakter von 1922. Leiter des universitären „Gegenambulatoriums“ war Kogerer.

1933 brachte Reich sein Buch Charakteranalyse heraus, das den Untertitel trug „Technik und Grundlagen für Studierende und praktizierende Analytiker“. 1934 veröffentlichte Kogerer sein Buch Psychotherapie: Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte. Ein Jahr später wurde es in Reichs Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie (Band 2, Heft 3, 1935) kurz (zwei Sätze!) von „M.“ besprochen: das Buch werde „den modernen Problemen der Psychotherapie in keiner Weise gerecht, weil es ein Sammelsurium von Methoden, Anschauungen und Arbeitsweise in naiver, hoffnungsloser Weise zu vereinigen sucht“.

Mit diesem eklektischen Ansatz, bei dem insbesondere Alfred Adlers „Individualpsychologie“ eine gewichtige Rolle spielte, war Kogler ein direkter Vorläufer der Bemühungen des von Matthias Heinrich Göring geleiteten „Deutschen Instituts für psychologische Forschung und Psychotherapie“. Nach dem Anschluß 1938 ließ sich Kogeler begeistert gleichschalten. Wie der unselige C.G. Jung meinte er, die Psychoanalyse wäre auf die spezifisch „jüdische Psyche“ zugeschnitten.

Von aktuellem Interesse ist, daß seit längerem Bestrebungen in Gange sind, die unterschiedlichsten psychotherapeutischen Ansätze zu vereinigen – ähnlich wie unter Göring. Ich will damit nicht sagen, daß ein solches oberflächlich betrachtet ja löbliches Unterfangen von vornherein „nazi“ ist, realiter kann es aber immer nur ein Ausweichen vor dem Wesentlichen sein – also genau das, worunter die neurotischen Patienten leiden… Bezeichnenderweise tun sich heutzutage ausgerechnet „Reichianische“ Therapeuten darin hervor, aus der Psychotherapie (bzw. „Körperpsychotherapie“) ein unappetitliches Potpourri aus halbverdauten „Ansätzen“ zu machen…

Ernster zu nehmen ist der Fall der Ärztin Johanna Haarer. Sie verkörperte alles, was den Nationalsozialismus in seinem Wesenskern so abgrundtief Hassens- und Verachtenswert macht!

Haarer veröffentlichte im Dritten Reich den Bestseller (bis Kriegsende wurden 690.000 Exemplare verkauft, bis zur letzten Auflage 1987 wurden 1,2 Millionen abgesetzt). Ich kann und will hier nicht die ganze lebensfeindliche Pestilenz ausbreiten, deren Schaden in Deutschland noch Jahrhunderte nachwirken wird. Man lese sich den entsprechenden Wikipedia-Artikel über Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind selbst durch! Es ist das exakte, diametrale Gegenteil zu allem wofür die Namen LaMettrie, Max Stirner, Wilhelm Reich und A.S. Neill stehen! Schlimmer geht es einfach nicht. Emotionelle Pest in ihrer Reinform!

Mit derartigen Pfeifen und Arschlöchern mußte Reich in den 1920er und 30er Jahren ringen. Und man glaube nicht, daß die österreichischen, deutschen und skandinavischen Sozialdemokraten in diesen Jahren viel besser waren. Schließlich waren die Nationalsozialisten auch nur Sozialdemokraten! Ich verweise dazu auf Der Rote Faden. Gewisse Subjekte können sich Ihren „Antifaschismus“ deshalb sonstwo hinstecken! Ich kann gar nicht soviel fressen, wie ich kotzen möchte.

Wenn der Wille des Babys nicht vom ersten Tag an konsequent gebrochen wird, bekommt man zur Strafe „den kleinen Haustyrann“. Vom Schreien des Kindes muß sich die Mutter dabei nicht irritieren lassen, schließlich können Kinder in den ersten zwei Lebensjahren weder Schmerz noch Liebe empfinden und erinnern sich auch an nichts.

Die Geschichte der Orgontherapie (Teil 1)

20. August 2024

Seinen ersten Patienten behandelte Reich als er noch Medizinstudent war. Man wartete darauf, daß der Patient frei zu assoziieren begann und brachte Sinn in den surrealen Fluß der Gedankenfetzen. Der Patient kam auf diese Weise zu immer tieferen Einsichten über seine psychische Entwicklung und gab entsprechend sein unvernünftiges (neurotisches) Verhalten auf.

Problem war, daß die meisten Patienten gar nicht dazu in der Lage waren frei zu assoziieren und die Deutungen größtenteils vollkommen willkürlich waren. Reich regte ein „technisches Seminar“ an, in dem angehende Psychoanalytiker lernen sollten, mit den Widerständen der Patienten gegen das freie Assoziieren umzugehen und angemessene Deutungen zu geben. Aus dieser „Widerstandsanalyse“ entwickelte sich rasch die Charakteranalyse. In diesem Rahmen formulierte Reich erstmals den „phallisch-narzißtischen Charakter“. (Er präsentierte das am 6. Okt. 1926 vor der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung in seinem Vortrag „Über den genital-narzißtischen Charakter“ [Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 8(2), S. 268, 1927].)

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Reich entwickelte sich schnell zu einem zentralen Lehrer der Psychoanalyse. Insbesondere aus Amerika kamen haufenweise angehende Psychoanalytiker, um von ihm ausgebildet zu werden. Daß er als führender Psychoanalytiker nicht allgemein anerkannt wurde, lag daran, daß er die Charakteranalyse von Anfang an mit seiner Orgasmustheorie verband, d.h. die Charakteranalyse hatte die „orgastische Potenz“ als Ziel. Durch die Orgasmustheorie wurde aus der vagen Vorstellung von der Libido eine konkrete Energie, die „entladen“ werden mußte. Dem konnte und wollte keiner seiner Schüler folgen.

Im skandinavischen Exil entwickelte sich aus der Charakteranalyse die Vegetotherapie, die auch von körperlicher Seite her den Patienten „orgasmusfähig“ machen, d.h. den „Orgasmusreflex“ freilegen sollte. Reich gewann eine Reihe von Schülern für sich, jedoch gelang es ihm wiederum nicht, die Therapie als systematische „Orgasmusbefähigungstherapie“ durchzusetzen.

Im Amerika, wohin er 1939 emigrierte, systematisierte er die Vegetotherapie, indem er die sieben Panzerungssegmente formulierte, die es von oben nach unten nacheinander aufzulösen galt. Aus der Vegetotherapie wurde die „psychiatrische Orgontherapie“, die ab 1946 von einer neuen Generation von Therapeuten unter Führung von Elsworth F. Baker, Chef der Frauenabteilung eines psychiatrischen Hospitals, praktiziert wurde.

1948 wurde die American Association for Medical Orgonomy gegründet, die feste Standards aufstellte. Imgrunde wiederholte sich hier das gleiche wie einst im Technischen Seminar in Wien. Reich war nach wenigen Wochen eigener psychoanalytischer Therapie Psychoanalytiker geworden und entwickelte dann wenig später ein strukturiertes Ausbildungsprogramm für Psychoanalytiker. Zwei Jahrzehnte später war der ausgebildete Psychoanalytiker Baker nach sechs Wochen Therapie bei Reich selbst Orgontherapeut. Ende 1949 war Baker innerhalb der soeben gegründeten Wilhelm Reich Foundation zuständig für die Ausbildung neuer Orgontherapeuten und es wurde ein Ausbildungsprogramm für Psychiater (bzw. angehende Psychiater) entwickelt. Dieses Programm wurde nach dem Ende der Wilhelm Reich Foundation im Jahre 1954 und Reichs Tod im Jahre 1957 von Baker fortgeführt und kontinuierlich weiter systematisiert. Elf Jahre nach Reichs Tod gründete Baker das American College of Orgonomy („College“ im Sinne von „Kollegium“, eine Vereinigung von Orgonomen) in dessen Rahmen dieses Programm bis heute fortgeführt wird.

Einige von Reichs Schülern, die Reich bis zum Ende treu geblieben sind (den Rest beachten wir hier erst gar nicht) haben ihrerseits selbst Therapeuten ausgebildet, später sogar einige von Bakers Schülern. Da wäre zunächst Ola Raknes zu nennen, der Reich seit dessen Berliner Zeit kontinuierlich begleitet hatte. Auf ihn gehen „Vegetotherapeuten“ in Skandinavien und die „Orgontherapie-Schule“ von Federico Navarro in Italien zurück. Nach Reichs Tod kam es zu einem Bruch innerhalb der American Association for Medical Orgonomy. Beispielsweise bildete der Orgonom Victor Sobey unabhängig von Baker Orgontherapeuten aus (meist Psychologen). Und schließlich kam es innerhalb des American College of Orgonomy selbst 1982 zu einer Abspaltung, als eine Gruppe von Bakers Schülern eine eigene Organisation gründeten, das Institute for Orgonomic Science, da sie dem Urteilsvermögen des auf die 80 zugehenden Baker nicht mehr vertrauten. (Baker wollte das bis dahin informelle „Kollegium“, das nichteimal einen festen, zentralen Sitz hatte, in eine Organisation samt Hauptquartier umgestalten.)

Natürlich lassen sich keine generellen Urteile fällen, aber wenn man beispielsweise die theoretischen Ergüsse von Navarro oder so manchen Artikel in den Annals of the Institute for Orgonomic Science, etwa über den „okularen Charakter“ liest, kommt man doch stark ins Zweifeln. Navarros Buch Die sieben Stufen der Gesundheit (Frankfurt: Nexus, 1986) ist schlichtweg indiskutabel. Beispielsweise führt er Haarausfall auf okulare Panzerung zurück – und andere derartige haltlose „Theorien“, die kaum mehr sind als primitivstes Psychologisieren des Physischen. Ähnlich erstaunlich sind manche Ausführungen in den Annals of the Institute of Orgonomic Science. Dort wird beispielsweise eine Diskrepanz konstatiert zwischen der Behauptung, daß eine starke Augenpanzerung in jedem Fall auf einen „schizophrenen Charakter“ hinweist und der Tatsache, daß kaum einer dieser „schizophrenen Charaktere“ je an Schizophrenie im klinischen Sinne erkrankt. Schon mal die Charakteranalyse gelesen? (Die Diagnose wird nicht nach den Symptomen, sondern nach dem neurotischen Charakter gestellt, der den Symptomen zugrundeliegt!) Was die Schüler von Victor Sobey betrifft, verweise ich auf meine gestrigen Ausführungen.

Einer der Hauptstreitpunkte, der diese gesamte Entwicklung durchzog, war, ob nur Mediziner bzw. Psychiater Orgontherapeuten werden sollen. In den 1920er Jahren hat Reich, in Opposition gegen Freud, eindeutig Stellung gegen die „Laienanalyse“ genommen. Als Reich im Exil zunehmend in Isolation geriet, lockerte sich diese schroffe Ablehnung von Nichtmedizinern. Beispielsweise war Ola Raknes Psychologe. Als dann jedoch ab 1946 vermehrt Psychiater um eine Ausbildung baten, kehrte Reich zu seiner ursprünglichen Position zurück. Beispielsweise legte er Alexander Lowen nahe, ein Medizinstudium zu absolvieren, was dieser auch tat, als ihm danach aber auch noch bedeutet wurde, eine Facharztausbildung zum Psychiater auf sich zu nehmen, verließ er entnervt die Orgonomie.

Dem vielleicht ersten der modernen „Reichianischen Therapeuten“, Paul Ritter, schrieb Reich am 9. Oktober 1950 persönlich, daß er auf keinen Fall Leute in „Therapie“ nehmen solle, egal wie sehr es ihn auch dränge ihnen zu helfen. Reich fuhr fort:

Sie (die Orgontherapie) ist nicht mehr und nicht weniger als bio-psychiatrische Chirurgie und kann nur von versierten und gut ausgebildeten Menschen mit der entsprechenden (Charakter-) Struktur auf eine sichere Weise durchgeführt werden. Sie ist deshalb auf Ärzte beschränkt. (Journal of Orgonomy, May 1977)

Nach Reichs Tod hat sich die Psychiatrie in Amerika langsam aber sicher verändert: Psychotherapie wird heute durchweg von Psychologen praktiziert, während sich der Psychiater weitgehend auf diagnostische Gespräche und das Verabreichen von Psychopharmaka beschränkt. Orgonomen sind in dieser Beziehung heute die große Ausnahme.

Parallel dazu hat sich auch die Orgontherapie weiterentwickelt. Obwohl Reich die charakteranalytische Arbeit nie aufgab, verlagerte sich doch sein Augenmerk immer mehr auf die „biophysische Arbeit“, zumal Reich an der eigentlichen „Psychotherapie“ zunehmend das Interesse verlor und am Körper direkt mit der Orgonenergie, bzw. direkt am „Orgonom“ arbeiten wollte. Baker steuerte dieser Tendenz in seinem 1967 erschienen Buch Der Mensch in der Falle entgegen. Der Orgonom Richard Schwartzman erwähnt in seinen Erinnerungen über seine zwölfjährige Therapie, daß ihn Baker nicht ein einziges Mal berührt habe. (Andere Patienten haben gleichzeitig andere Erfahrungen gemacht! Jeder Fall ist anders!)

Am Ende seiner Laufbahn ist Baker zum Schluß gekommen, daß man vielleicht doch Psychologen zulassen sollte, soweit sich diese von jeder „biophysischen Arbeit“ fernhalten. Entsprechend werden heute beim American College of Orgonomy promovierte Psychologen zu „Charakteranalytikern“ ausgebildet.

Zum bisher letzten Bruch ist es vor kurzem gekommen, weil Schwartzman (mittlerweile verstorben) diese Beschränkung weitgehend aufheben wollte, vor allem deshalb, weil es kaum noch Mediziner gibt, die sich zu Orgontherapeuten ausbilden lassen wollen. Die Orgontherapie ist gewisserweise wieder „im Exil“ und muß ums Überleben kämpfen.

Der biologische Rechenfehler in der „antiautoritären Kindererziehung“

1. August 2024

Das mit „intakter“ und „kaputter“ Kindheit ist so eine Sache, die Reichs gesamtes Projekt infrage stellt. Da erscheinen ab und an „Patienten“ bei Orgontherapeuten, deren Kindheit schlichtweg die Hölle war, die sich aber bei näherer Untersuchung als vollkommen gesund erweisen. Sie gehen zum Psychiater mit der Frage: „Entweder spinne ich oder alle anderen?!“ Andererseits wachsen die eigenen Kinder der Orgonomen unter denkbar optimalen Bedingungen auf, doch immer wieder gibt es dort neurotische Wracks, Schizophrene, Perverse – und kein Mensch weiß, was passiert ist. Beim einen Kind scheint der ganze Müll durchs eine Ohr reinzugehen, um unmittelbar und ohne Schaden anzurichten, das andere Ohr wieder zu verlassen, während andere Kinder schon bei den harmlosesten Dingen einen lebenslangen Schaden davontragen.

Dann gibt es auch tragische Fälle wie Reichs Tochter Eva, die erst streng psychoanalytisch aufgezogen wurde, also distanziert, um den „Ödipuskomplex“ nicht zu aktvieren, und streng „wissenschaftlich“ objektiv – und dann plötzlich nach Reichs eigenen sexualökonomischen Prinzipien der Selbstregulation. Zeitgleich wurde Reich Kommunist, der seine Kinder zu kleinen „Komsomolzen“ erziehen wollte, wobei er nicht ahnte, daß das Kindermädchen strenge Katholikin war, die um das Seelenheil dieser kleinen „Heidenkinder“ kämpfte, sie hinter Reichs Rücken zur Heiligen Messe schleppte und ihnen allen möglichen papistischen Aberglauben einimpfte. Nach Reichs Tod wurde Eva zu einer „sozialistischen Christin“….

Bei aller Begeisterung für Reichs „Kinder der Zukunft“ und Laskas LSR-Utopie – in Wirklichkeit wissen wir so gut wie nichts darüber, wie „das Paradies“ zu errichten ist. Nicht nur die sexuelle Revolution im engeren Sinne hat seit 1960 für Unheil gesorgt, sondern insbesondere auch die „sexualökonomische“ Kindererziehung. Indem aus Kindern Partner wurden, wurde eine Verunsicherung erzeugt, die nur als grausam bezeichnet werden kann. Stelle dir vor, du überantwortest dich einem Bergführer auf gefährlichem Terrain und dann stellt sich heraus, daß er genauso linkisch und verpeilt ist, wie du selbst: Panik! Das, was der Prävention von Panzerung dienen soll, führt beim Kind erstrecht zu Panzerung, da es seine Panik irgendwie binden muß.

Es ist offensichtlich, daß falsche, angemaßte Autorität noch verheerender wirken kann, zumal kein Kind gleich ist. Die einen kommen so robust zur Welt, daß Lebensfeindlichkeit an ihnen wirkungslos verpufft, während andere schon ein „böser Blick“ bis ins Mark verunsichern kann. Das bedeutet, daß von Anfang an eine „Charakteranalyse“ unausweichlich ist. Charakteranalyse ist, nach Elsworth F. Baker, nichts anderes als „Kontaktherstellung mit dem Patienten“. Wir müssen jeden Menschen als unverwechselbares Individuum wahrnehmen und entsprechend mit ihm umgehen. Das ist Liebe und nur die Liebe heilt bzw. verhindert, daß Unheil in die Welt zieht.

Marx und Reich (ZWEITER NACHTRAG zu: Die eigentlichen Feinde von LSR. Oder: Peter offenbart die letzten esoterischen Geheimnisse der Weltverschwörer)

21. Juni 2024

Marx Grundauffassung war die, daß rationale materielle Bedingungen schließlich die irrationalen Ideen der Menschen verschwinden lassen würden. Reichs Grundimpetus war das genaue Gegenteil: die irrationalen Ideen der Menschen machen eine rationale Entwicklung der materiellen Bedingungen unmöglich. Dabei war an sich Marx für eine derartige „charakteranalytische“ bzw. „massenpsychologische“ Betrachtungsweise geradezu prädestiniert: David McLellan macht in seiner Untersuchung über Die Junghegelianer und Karl Marx die interessante Bemerkung, „daß Marx sich die verschiedenen Erscheinungsformen der Entfremdung als Vielzahl von Schichten um einen innersten Kern herum dachte, die eine nach der anderen abgelöst werden müßten, wobei die jeweils tiefer liegende Schicht immer erst dann sichtbar werde, wenn die äußere Schicht entfernt worden wäre“ (S. 94).

Der Unterschied ist natürlich der, daß Marx das reale, materielle und damit nicht entfremdete Wesen freilegen will, das nur unter bestimmten materiellen Voraussetzungen agieren kann, sich dessen bewußt wird und sich infolge von seiner illusorischen „Eigenheit“ befreit. Genau das ist Thema von Marx‘ Die Deutsche Ideologie. Reich wäre für Marx nichts anderes als ein „wahrer Sozialist“ gewesen, der nicht, wie Marx im Kommunistischen Manifest schreibt, „statt wahrer Bedürfnisse das Bedürfnis der Wahrheit und statt der Interessen des Proletariers die Interessen des menschlichen Wesens, des Menschen überhaupt [vertritt], des Menschen, der keiner Klasse, der überhaupt nicht der Wirklichkeit, der nur dem Dunsthimmel der philosophischen Phantasie angehört“.

Was nun die am Ende des letzten Beitrags erwähnte „Maschine“ betrifft: in Das Kapital konstatiert Marx zunächst, ganz im Sinne Reichs, daß die Maschine sich nur im Gegensatz zur lebendigen Arbeit entwickeln kann und sich schließlich in Gestalt des Kapitals gegen den Arbeiter stellt. Gleichzeitig befreit die Maschine aber den Arbeiter von der Arbeit – er muß nur das Kapital in seine Hände bekommen, d.h. letztendlich eins werden mit der Maschine. Dialektik!